Die Impfdebatte, sofern sie überhaupt noch debattenfähig ist, ist auch eine Freiheitsdebatte. Die Freiheit des Einzelnen ist ein hohes Gut, der Geschichte opferreich abgerungen. Es hat den freien Bürger gegen jeden Anflug von Drangsal und Zwang sensibel gemacht. Nur die alten Frontstellungen haben sich verschoben. Wir haben keinen Staat mehr, vor dem sich der Bürger fürchten muss, wenn, dann am ehesten vor dessen Ineffizienz oder Gefallsucht: dass die Regierenden nicht regieren, sondern ihr Handeln an Stimmungen ausrichten. Es muss auch niemand mehr Angst vor dem Machtpotenzial der Kirchen haben, nicht der christlichen, sie sind durch das Feuer der Aufklärung hindurch, spät aber doch. Für den freien Willen sind sie keine Gegenmacht mehr. Und der Adel ist nur noch was für Friseurzeitschriften.
Wogegen bringt also der Einzelne den freien Willen heute in Stellung? Nicht mehr gegen eine finstere Obrigkeit, sondern eher gegen seinesgleichen. Gegen den Druck des Konformismus, so oder nicht anders denken oder sprechen zu müssen. Auch dagegen lohnte es sich, hellhörig zu bleiben. Für den Freiheitsdrang des autonomen Ich und das Zusammenleben haben wir eine brauchbare Formel zur Hand bekommen: Die freie Entscheidung ist was Schönes, aber sie hat ihre Grenzen dort, wo Dritte die Folgen meines Tuns mittragen müssen, ohne gefragt zu werden, ob sie dazu bereit sind. Freiheit ohne die ethischen Leitplanken der Verantwortung und Rücksichtnahme ist kein Ausdruck liberaler Gesinnung, sondern Ignoranz. Ein bisschen mehr Wir und weniger Ich steht auf Rossegger-Kalendern in alten Bauernhäusern.
Eine Pandemie kann nur über dieses Wir, das solidarische Kollektiv, überwunden werden, über eine hinreichende Zahl an Geimpften, die helfen, die Übertragungswege einzudämmen und dafür privilegiert werden sollen. Die Entscheidung soll frei bleiben, aber die Allgemeinheit ist nicht verpflichtet, beide Haltungen gleich zu behandeln, wenn ihr die eine schadet und die andere nützt. Ziel bleibt ein gemeinsames Verständnis darüber, was vernünftig im Sinne des Gemeinwohls ist, wissend, dass das Impfen keinen vollkommenen Selbst- und Übertragungsschutz garantieren kann. Das verminderte Risiko reicht. Das zu vergemeinschaften, ist die Prüfung. Sie findet in einer individualistischen Gesellschaft schlechte Voraussetzungen vor, während das Virus die Konstellation liebt.
Es ist eine Kulisse, in der das Ich gegen das Wir und die Evidenz richtig mächtig werden kann, für jede Mutmaßung findet sich im Netz eine Verstärkerbox. Das sind die neuen Machtverhältnisse, eine frivole Umkehrung zu Metternich. Von einer „Diktatur“ kann keine Rede sein, wenn das unsolidarische Nein solidarisch gesponsert wird, eher kommt das Joch von unten, eher befinden sich die Geimpften in Geiselhaft der Unwilligen, weil sie die Perpetuierung der Covid-19-Krise durch die vielen Verweigerer mittragen müssen. Ein Zwang durch die Vordertür, der Opfer und Geld kosten wird. Es ist eine Frage der Zeit, wann sich das Wir die Freiheit herausnimmt, die Stopptafel zu heben.