Dieser Tage ein neues Wort gelernt. Bifurkation. Bi geht noch, der Rest: nie gehört. Der Philosoph und Unternehmensberater Reinhard K. Sprenger hat es in einem lesenswerten Beitrag in der NZZ gebraucht. Es ging um die neuerdings sehr laut und schrill gestellte Frage, ob die Regierungen im März die falsche Wahl getroffen haben. Sprenger sagt, er habe selten eine doofere Frage gehört, je lauter und schriller, desto doofer. Er sagt, es sei keine falsche Wahl getroffen worden, weil keine Wahl vorgelegen habe. Es sei bestenfalls eine Entscheidung getroffen worden. Das sei ein gravierender Unterschied.

Eine Wahl beruhe auf Fakten, Tatsachen und Daten. Meistens hängen an der Wand Flipchart-Bögen mit Chancen-Risken-Tabellen aus Manager-Klausuren. Beim „Entscheiden“ hingegen fehle die Zeit für Folien und Einkehr. Eine Entscheidung werde, und das sei ihr Wesensmerkmal, „in Unkenntnis aller Tatsachen“ getroffen. Es gebe kein Richtig und Falsch. Man müsse durch den Feuerreif des Zweifels springen, ohne zu wissen, wo man landet. Man könne nur hoffen, dass es gut wird. Die wichtigste Zutat sei in der Regel ein solides Ausmaß an Glück, jedenfalls die Abwesenheit von Pech. Was an Unwägbarkeit und Zufall auf dem Weg daherkomme, könne man hinterher immer noch als durchdachte Strategie verkaufen, viele Manager verstünden sich gut darauf.

Für die Notwendigkeit raschen Entscheidens aus dem Augenblick und der Bedrängnis heraus verwendete Sprenger den Begriff der Bifurkation, der Weggabelung. Für die Nachvollziehbarkeit reicht ihm Filmmaterial aus Ice Age: eine Gruppe Flüchtender, hinter ihnen ein immer näher kommender Säbelzahntiger und vor ihnen die Gabelung mit den zwei Optionen, wobei beide Wege nur einige Meter tief einsehbar sind und beide Wege Risken bergen. Das sei die Kunst des Entscheidenmüssens. Der einzige substanzielle Vorwurf, der den Regierungen, so Sprenger, gemacht werden könne: dass sie die Warnungen in den Wind schlugen und schlecht vorbereitet waren.

Geht es nach einer neuen Studie des Imperial College in London, publiziert im Fachblatt „Nature“, dürfen sich die europäischen Regierungen bestätigt fühlen. Wäre ein Shutdown unterblieben, wären in Europa bis Anfang Mai rund 3,1 Millionen Menschen am Corona-Virus gestorben. In Österreich hätte es ohne nationale Intervention 66.000 Todesopfer gegeben. Das Modell berechnet die beobachteten Todesfälle rückwärts, um die Übertragung zu schätzen, die mehrere Wochen zuvor stattgefunden hat, wobei die Zeitverzögerung zwischen Infektion und Tod berücksichtigt wird. In einer zweiten Studie sah sich ein Forscherteam von der University of California die Maßnahmen in China, Südkoreal, Italien, Iran, Frankreich und den USA an. Laut dem Ergebnis wurden rund 530 Millionen Infektionen verhindert. „Ich denke, kein anderes kollektives menschliches Unterfangen hat jemals in so kurzer Zeit so viele Leben gerettet“, meint Studienleiter Solomon Hsiang. Wir werden uns heute die Studien, ihre Methodik und Unschärfen, genauer anschauen.

Im Blatt eine erste Erörterung der Frage, wie moralisch fragwürdig Inlandsflüge im kleinen Land sind (Claudia Haase meint: sehr) und die sommerliche A-Frage als Aufmacher: Alm oder Adria? Nach Kroatien dürften heute auch Italien und Griechenland freigegeben werden. Jetzt ist der Kunde wieder autonomes Subjekt. Es wird nach der Sprenger-Lehre eher eine Wahl sein und keine Entscheidung. Der Morgenpostler hat sie für sich getroffen: Wolayersee vom Lesachtal aus, zum Al Parco nach Buttrio (über das Soca-Tal), weil der 87-jährige Vater schon hart wartet und neue Polenta für den Frühstückskaffee braucht, und mit dem Rad endlich entlang der Parenzana, der alten Schmalspurbahn, die in der Monarchie und in den Jahren danach Triest mit Porec verband. Mehr Süden muss heuer nicht sein.

Und Sie?

Einen entscheidungsfreudigen Tag ohne Raubtier im Genick wünscht