Erst das politisch abgrundtief entzweite Land, dessen Lager einander wie in Stammeskriegen begegnen. Dann die Viruskrise, die die Risse und Ungleichheiten Amerikas sichtbar und die Schwachen und Benachteiligten zu doppelten Opfern machte. Und jetzt der barbarische Gewaltakt eines weißen Polizisten an einem dunkelhäutigen Verdächtigen, ein Exzess, der das Land in eine schmerzvolle Konfrontation mit seiner archaischen, überwunden geglaubten Vergangenheit zwingt. Es ist eine Passion, die Amerika durchlebt, angeführt von einem Präsidenten, dessen Naturell kein Angebot zulässt, heilend zu wirken. Die Spaltung ist sein Businessplan.

Ist es das wahre Amerika? Die Frage im Blatt ist eine Falle. Es gibt kein wahres Amerika, weil das Wahre zugleich unwahr ist und das Unwahre wahr. Amerika lässt sich nicht festmachen. Es ist maßlos und puritanisch. Es schreibt das Verlangen nach Glück in die Verfassung und überlässt die Obdachlosen auf wärmenden Kanalgittern ihrem Unglück. Es ist das Land himmlischer Musik und höllischen Junks. Es hat die grandiosesten Wissenstempel und das schlimmste Nichtwissen von der Außenwelt. Es bringt die kaputtesten Psychopathen hervor und die kreativsten Genies vom Schlag eines Elon Musk, der die deutsche Automobilbranche im Alleingang vom Sockel stieß. Das Land ist radikal selbstbezogen und hat Europa befreit. Es ist die Supermacht der Datenwelt und des Datenmissbrauchs. Es ist avantgardistisch und kommt beim Waffenwahn und Aug’ um Aug ’von den alten Mythen nicht los. Es ist strukturell rassistisch und hat der Kinowelt die besten Anti-Rassismus-Filme geschenkt („Gran Torino“). Seine Polizisten knien Verdächtige zu Tode, und sie knien nieder vor Scham.

Der monströse Übergriff ist nicht Amerika, aber Amerikas größte schwärende Wunde. Das Land kriegt sie nicht zu. Sie ist nichts Äußerliches, sondern reicht tief ins innere Gewebe und in das Vergangene, das noch immer gegenwärtig ist. Die Polizei ging aus den Sklaven-Patrouillen hervor, weißen Milizen, die bei Gegenwehr töten durften. Sie wurden gegründet, um Schwarze in Schach zu halten und die Ungleichheit gewaltsam zu festigen. Wirkt am Ende der Sog der dunklen Vergangenheit stärker als alle Bemühungen, den Ungeist mit Körperkameras, Anti-Rassismus-Trainings oder mehr Diversität in den Polizeistationen zu bezwingen? Stärker als der Gegen-Mythos Obama?