Geschätzte Leserin, geschätzter Leser!
Bei unserem Nachbarn Deutschland ist er das mediale Gesicht der Coronakrise: der Virologe Christian Drosten, Professor an der Charité. Er ist der maßgebliche Berater der deutschen Bundesregierung, er steht bei den Bundespressekonferenzen an der Seite des Gesundheitsministers, auf ihn hören die Ministerpräsidenten. Er steht jedem Fernseh- und Radio-Sender gefühlt rund um die Uhr Rede und Antwort. Mit seinem Corona-Podcast erreicht er Hunderttausende Menschen. Gestern Abend war er Interviewpartner von Armin Wolf in der ZiB2, ein Gespräch, spannender als jeder Krimi. Und er, Drosten, ist jetzt höchst besorgt von den Bildern, die sich in Deutschland nach den ersten Lockerungen zeigen. Weil sich zu viele Menschen wieder im öffentlichen Raum und den Geschäften drängten, drohe ein Rückschlag in der Eindämmung des Covid-19-Virus. „Wir verspielen unseren Vorsprung“, warnt Drosten.
Bei uns ist das Gesicht der Coronakrise der Bundeskanzler. Man kennt in etwa die Namen der Expertinnen und Experten, von denen sich die österreichische Bundesregierung beraten lässt. Die Botschaften, die guten wie die schlechten, vermitteln aber ausschließlich Kanzler Sebastian Kurz, flankiert von Vizekanzler Werner Kogler, Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Innenminister Karl Nehammer. Deshalb gehört nicht nur des Kanzlers Wort das Gehör der Bevölkerung, sondern trifft Kurz auch die zunehmende Kritik und Unzufriedenheit, etwa in Bezug auf die Abwicklung der Hilfsmaßnahmen. Die Opposition hat sich vom solidarischen Mitgehen bei den Maßnahmen schon länger verabschiedet. Mit schwammigen, überinterpretierbaren Formulierungen wie jetzt im Epidemiegesetz nimmt die Verunsicherung ob der Einschränkungen und ihrer Folgen zu.
Von dem zunehmenden Misstrauen sind wir Medien nicht ausgenommen. Anruf des medizinischen Direktors eines Krankenhauses. Frage an die Chefredakteurin: „Veröffentlichen Sie jetzt auch kritische Leserbriefe? Oder dürfen Sie jetzt keine von der Regierung abweichende Meinungen bringen?“ Eine erschreckende Annahme. Selbstverständlich veröffentlichen wir kritische Meinungen, die Leserbrief-Seiten sind voll davon. Und kritische Kommentare der Redaktion und externer Autoren/innen finden sich sonderzahl in der Kleinen Zeitung.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat jedenfalls die Stimmungsänderung wahrgenommen. Deshalb mahnte und warnte er gestern bei der Angelobung der neuen Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes, Verena Madner: „Die aktuellen Einschränkungen sind nur durch die außergewöhnliche Situation gerechtfertigt. Sie müssen im Rahmen der Verfassung bleiben, und sie dürfen nur so lange gelten als sie unbedingt notwendig sind. Sie müssen also mit einem Ablaufdatum versehen sein.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Antonia Gössinger