Lieber Herr Weniger, in Ihrem Denkzettel zum Neujahrstag irren Sie sich beim Marsch "Berliner Luft" von Paul Linke. Er ist ein besonders schwungvoller Operettenmarsch, zu dem man gar nicht gut marschieren kann. Das meinen Sie vielleicht, weil Berlin einmal die Hauptstadt des Stechschrittes war. Nein. Im Charakter und der Atmosphäre der Musik liegt hauptsächlich Beschwingtheit. Wer vorurteilslos oder mit dem Herzen zuhören kann, kommt ohne Zwischenstation des Denkens auf dieses Ergebnis.

Die Tendenz zur Arroganz liegt bei den Österreichern gerne in der Luft. Nur weil der Radetzkymarsch populärer ist als ein "Sternenbanner" oder ein "Florentiner Marsch", muss er noch nicht unbedingt besser sein. Wie gut ist es, dass man in der Kunst nicht messen kann. Und wie schnell wir uns besser fühlen als die "anderen". Beim Fußball waren wir ohnedies schon beinahe Weltmeister und mit dem jetzigen Hirscher-Vorsprung schauen wir bereits angewidert auf die Zweiten herab.

Ja, ja, "So sind wir" – das ist der Titel eines anderen, schönen, temperamentvollen Marsches, der halt bei uns nur zu selten gespielt wird.

Sigismund Seidl, Militärkapellmeister i. R., Wölfnitz