War’s das wirklich? Ging an diesem Sonntag eine der erfolgreichsten und die bislang schillerndste Karriere im alpinen Damenskiweltcup zu Ende? Vor exakt einer Woche bricht für Lindsey Vonn eine Welt zusammen.
Ihre Welt. Seit ihr Vater sie mit zweieinhalb Jahren auf einem 93 Meter „hohen“ Hügel bei Minneapolis das erste Mal auf Ski stellt, dreht sich im Leben der heute 34-Jährigen alles nur noch ums Skifahren. Dem Sport wird alles untergeordnet. Die letzten zwei Jahre Highschool muss sie wegen zu schlechter schulischer Leistungen im Eigenstudium übers Internet absolvieren. „Es war schrecklich, weil ich nicht besonders geduldig bin“, erinnert sich Vonn. Als sie elf ist, übersiedeln die Eltern mit ihr und den vier anderen Kindern wegen Lindseys Sportambitionen vom flachen Minnesota in die Berge Colorados nach Vail. Der Grundstock für eine der erfolgreichsten Karrieren im alpinen Skisport ist gelegt. Geht sie jetzt zu Ende?

„Ich wollte nicht aufhören, aber ich kann nicht weiterfahren. Die Schmerzen in meinem Knie sind zu viel“, schluchzt Lindsey Vonn vergangenen Sonntag in die TV-Kamera. Tränen kullern unter der verspiegelten Sonnenbrille über ihre Wangen. Aus der schon vor Saisonbeginn formulierten Absicht, nach diesem Winter aufzuhören – „Ich bin physisch an einem Punkt angelangt, wo es keinen Sinn mehr hat“ (Vonn im Oktober) –, wird plötzlich und früher als geplant greifbare Realität. Vonn ist auf den Zielhang ihrer Karriere eingebogen. Einer Karriere, deren Konstanten Triumphe, Tragödien, Tränen und unbändiger Ehrgeiz sind.

Lindsey Vonn in der Vorwoche
Lindsey Vonn in der Vorwoche © AP (Andrea Solero)

Als Vonn mit 15 Jahren ins US-Skiteam aufgenommen wird, beginnt kurz danach die „Mission Olympia“, ein penibel getakteter Karriere- und Trainingsplan Richtung Olympische Spiele 2002 in Salt Lake City. Sie schafft die Qualifikation, wird Sechste in der Kombination und ist zwei Jahre nach ihrem Weltcupdebüt endgültig in der Weltspitze angekommen. Und sie bleibt dort. Bis heute. Wenn auch andere Läuferinnen mittlerweile immer öfter schneller sind als sie, ihr letzter Weltcupsieg etwas mehr als zehn Monate zurückliegt und sie in der laufenden Saison erst drei Mal am Start stand und beim bislang letzten Rennen ausschied: Lindsey Vonn ist die unangefochtene Queen des Skizirkus.In einer Szene, in der zwar immer wieder Spitzensportler für Ausnahmeleistungen sorgen, die es aber – abgesehen von österreichischen Nationalikonen wie Toni Sailer, Karl Schranz, Franz Klammer oder Hermann Maier – selten schafft, Stars zu generieren, die auch abseits der Pisten und Loipen ausreichend Strahlkraft entwickeln, ist Vonn eine spektakuläre Ausnahme. Viele der kernigen, rotbäckigen, überaus erfolgreichen Schneesportler sind freundlich und nahbar, mit ihnen würde man gerne einen trinken gehen, aber die Gabe zur großen Inszenierung besitzen sie nicht, analysierte „Die Zeit“ treffend. Wer würde Romed Baumann, immerhin Bronzemedaillengewinner bei der WM in Schladming, oder Andrea Fischbacher, die sich im selben Jahr wie Vonn (2010) zur Olympiasiegerin gekrönt hat, auf offener Straße erkennen?

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Bei Lindsey Vonn war und ist das anders. Nicht nur dank ihrer stattlichen Größe, der blond gefärbten Mähne und der 1,6 Millionen Follower auf Instagram und 1,3 Millionen Facebook-Freunde, die professionell mit cool inszenierten Fotohäppchen gefüttert werden. Vonn brachte in den alpin-rustikalen Weltcupbetrieb eine hollywoodartige Dosis Glitzerglamour. Und daran waren nicht nur illustre Lebensabschnittspartner wie Golf-Superstar Tiger Woods, Football-Profi Kenan Smith und aktuell Eishockey-Crack PK Subban oder Affärengerüchte wie jene um Formel-1-Galionsfigur Lewis Hamilton schuld, die regelmäßig rund um Vonns auftauchen, seit sie ihre Ehe mit Thomas Vonn in einem wilden Rosenkrieg versenkte. Er soll nach dem Ende der Beziehung die gesamte, penibel angepasste Wettkampfskischuh-Kollektion seiner Ex-Frau in spe auf der Werkbank mit dem Kantenschleifer zerstört haben.

Lindsey und Thomas Vonn im Jahr 2008
Lindsey und Thomas Vonn im Jahr 2008 © AP (ARMANDO TROVATI)

Die Frau polarisiert. Sei es durch den Wunsch nach einer einmaligen Startberechtigung in einem Herren-Rennen, sei es durch ihr dramaturgisches Talent. Unbestritten sind jedenfalls ihre sportlichen Erfolge: 82 Weltcupsiege, vierfache Gesamtweltcupsiegerin und 16 Disziplinen-„Kugeln“, dazu drei Medaillen bei Olympischen Spielen, sieben bei Weltmeisterschaften. Mehrfach bewiesen sind ihre Stehauf-Qualitäten nach schwer(st)en Verletzungen: Bänderrisse, Zerrungen, Prellungen, Knochenbrüche. Ihre Krankenakte wäre ein eigenes Buch. Einmal zerschnitt sie sich eine Sehne ihrer Hand, weil sie während einer Siegerehrung in eine abgebrochene Champagnerflasche griff. Bei der WM in Schladming explodierte nach einer unsanften Landung im Super-G ihr Schienbeinkopf, zudem zerriss es Kreuz- und Seitenband. Sie kehrte auf die Rennstrecke zurück – und verletzte sich erneut und verpasste dadurch Olympia in Sotschi 2014. Zuletzt in Cortina führt ein gereizter Nerv im Wadenbein zur Ad-hoc-Rücktrittsmeldung. Und wenige Tage später zum Rücktritt vom Rücktritt. Typisch Vonn.

Den Grund hatte sie schon im Vorfeld des Rennwochenendes geliefert: Sie sei „noch nicht fertig“. Es ist Ingemar Stenmarks als uneinholbar geltende Marke von 86 Weltcupsiegen, die Vonn noch übertreffen will. Es ist ihr letztes großes Ziel. Dafür fehlt es nicht an Motivation, Hingabe oder Willen. Es fehlt am Knorpel im Knie. Eigentlich sage ihr der Körper: „Es ist genug!“, sinniert Vonn. Und steht am nächsten Tag wieder am Start.

Lindsey Vonn im Vorjahr bei der Oscarverleihung
Lindsey Vonn im Vorjahr bei der Oscarverleihung © APA/AFP/ANGELA WEISS (ANGELA WEISS)

Tausendfach erprobte Routine. Unterwäsche, Socken, Haube: alles – ihrem Mode-Faible folgend – farblich aufeinander abgestimmt und am Vorabend feinsäuberlich hergerichtet. „Ich bin ein planender Mensch.“ Das Make-up wie frisch aus dem Beauty-Salon. Mit dem rechten Ski zuerst ins Starthaus. Dort noch das typische, mehrmalige Durchkneten der Skistockgriffe. Nervöses Stampfen. Dann wirft sie sich, ihrem ungetrübten Instinkt für die schnellste Linie folgend, den Berg hinunter. Sie sei hier, „um auf Sieg zu fahren – egal, was passiert“. Aufgrund dieser Unerbittlichkeit „habe ich mich wahrscheinlich auch so oft verletzt, aber deswegen habe ich auch so oft gewonnen“, wird sie in einem Porträt im Magazin ihres Haus- und Hofsponsors zitiert. Das ist die Sonnenseite einer einmaligen Karriere.


Die Schattenseiten sind – neben dem Verletzungsmarathon – die Depressionen, an denen Vonn seit ihrem 19. Lebensjahr leidet und die sie mit Medikamenten bekämpft. Ja, sie habe Dinge einer normalen Jugend versäumt, räsonierte sie vor zwei Jahren vor Oxford-Studenten. Schon mit neun Jahren reist sie zu internationalen Rennen. Alleine. „Alles hat seinen Preis. Aber ich war drei Mal bei Olympischen Spielen, habe ein paar Rennen gewonnen und lebe ein großartiges Leben.“
Das Kapitel Skirennsport dieses sehr öffentlichen Lebens neigt sich dem Ende zu. Dass die heurige ihre letzte Saison sein wird, hat Vonn schon im Herbst angekündigt. Dass, selbst wenn sie Stenmarks Rekord knackt, ihre Landsfrau Mikaela Shiffrin binnen kürzester Zeit wohl eine neue Bestmarke in den Schnee zaubern wird, weiß sie auch. Dass die Rolle als Red-Carpet-tauglicher Popstar der Pisten so schnell niemand einnehmen wird, scheint aber auch klar.

Und dann? Schon vor vier Jahren hat sie eine gemeinnützige Organisation gegründet, die sich der Förderung und Unterstützung von Mädchen und jungen Frauen verschrieben hat. Sie weiß aus eigener Erfahrung um die Wirkkraft von Idolen, seit sie mit neun Jahren die damalige US-Spitzenathletin Picabo Street „für zwei Minuten“ (Vonn) traf. „Damals wurde mir klar, dass ich auch Olympiasiegerin werden will“, erinnert sich der heute bekennende Fan von Tennisass Roger Federer. Ihr Olympia-Gold hat Vonn, ob noch einmal eine Rückkehr auf die Siegerstraße gelingt und eine WM-Medaille in Åre dazukommt, steht in den Sternen.

Noch jedenfalls lodert das Feuer. Es ist keine strahlende, unverstellte Zuversicht mehr, die ungetrübte Vorfreude versprüht, aber doch so etwas wie von Ehrgeiz gespeister Zweckoptimismus. Ein letztes Aufflackern eines unstillbaren Siegeswillens. „Mind over matter“ – der Wille siegt über den Körper –, laute ihre Devise, wenn es richtig hart wird. „Ich versuche, das halb volle Glas zu sehen. Immer.“