„Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe, weil niemand mir geglaubt hätte.“ Als Marco Polo im Alter von 70 Jahren Anfang Jänner 1324 am Totenbett angeblich diese letzten Worte spricht, ist das Buch über seine abenteuerreiche Reise in die fernsten Winkel Chinas bereits verbreitet und blieb bis heute ein Bestseller. Seine Berichte von der einzigartigen Pracht Bagdads oder den Berg Ararat („die Arche Noah gibt es“), seine Schilderungen vom Mongolenherrscher Kublai Khan und dessen vier Frauen, der christliche Missionare im Land wünscht, oder von dessen Großjagden mit 10.000 Falknern klingen so faszinierend wie übertrieben. Aber selbst Christoph Columbus hat ein Exemplar von „Il Milione“ mit an Bord, als er 1492 die Bahamas entdeckt und vermeint , in „Las Indias“ im fernen Asien gelandet zu sein.

Bis heute lässt „Il Milione“ Historiker und Geographen, Sprach- und Kulturwissenschaftler spekulieren und streiten, was wahr ist oder erfunden im Standardwerk der ersten Globalisierung des Handels. 700 Jahre nach seinem Tod ist der venezianische Kaufmann als Symbolfigur einer wirtschaftlich umspannten Welt und als Kronzeuge der Faszination fremder Kulturen so lebendig und präsent wie dazumal. Die „Seidenhauptstadt“ Shanzou, die fernste Stadt seiner 24-jährigen Erkundung, ist als Ausganspunkt der Seidenstraße mit deren Endpunkt Venedig bis heute verknüpft per Städtepartnerschaft und Kulturaustausch. Das von Marco Polo beschriebene, Eurasien umspannende Band gilt seit je als friedensstiftendes Vorbild: Völkerverständigung durch Handel.

24 Jahre dauernde Reise

Als Marco Polo 1254 geboren wird, ist Venedig mit mehr als 100.000 Einwohnern eine der größten christlichen Metropolen und führende Wirtschaftsmacht mit Handelshegemonie von den Alpen bis Byzanz. Während der junge Marco im brodelnden Treiben über Campielli und Canali der Lagunenstadt springt, verschlägt es bereits seinen Vater und seinen Onkel, Niccolò und Matteo Polo, auf neunjähriger Reise als Edelsteinhändler auf der Seidenstraße bis nach Peking an den Hof des Kublai Khan. Als beide 1271 abermals aufbrechen, um den Mongolenherrscher über China das von ihm gewünschte Öl aus der Lampe des Heiligen Grabes in Jerusalem und ein Papstschreiben mitzubringen, nehmen sie den 17-jährigen Marco mit.

Zur See, auf endlosen Karwanenpfaden, über umwitterte Gebirge und durch „geisterhafte“ Wüsten Zentralasiens sollte es eine 24 Jahre dauernde Reise werden, davon 16 Jahre Aufenthalt unter der Obhut des Kublai Khan in Peking und in dessen Sommerresidenz in Shangdu. Denn der 60-jährige Großkhan, dessen Reich sich von China bis Russland und den Irak bis zum Schwarzen Meer erstreckt, findet Gefallen an dem neugierigen und intelligenten 21-jährigen Mann aus dem fernen Venedig und ernennt  ihn zum Präfekten  – „im kürzesten Einstellungsgespräch der Geschichte“, wie Francesco Jori, hoch dekorierter Autor, Journalist und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Padua im pünktlich zum Gedenkjahr erschienen jüngsten Buch „Marco Polo. La vita é viaggio“ („Das Leben ist eine Reise“) schreibt. Ganze zwei Zeilen schildern die Begegnung, in welcher der Vater sagt: „Er ist dein Mann und mein Sohn“, und der Khan antwortet: „Er ist herzlich willkommen und ich mag ihn sehr.“ Sieben Jahre lang durchstreift Marco Polo im Auftrag des Herrschers China. Seine Berichte beschreiben Landschaften und Städte, Landwirtschaft und Transportwesen, Bodenschätze und Handwerk, Religionen und Bräuche, Moden und Riten der Bevölkerung bis hin zu offenherzigen sexuellen Usancen.

Die Botschaft vom Brückenbauen

Es seien beispiellose und bis heute wertvolle Schilderungen, so schreibt Alberto Scarpa Olivi im Vorwort, die hinter der Figur Marco Polos wenig Fantastisches, dafür umso mehr handfest Merkantiles zutage fördern würden, vom zynischen Verhandeln der Kaufleute bis zu territorialen Monopolen und strategischen Vorteilen wie der Hoheit über Häfen. „Marco Polo war nicht der erste Kaufmann, der China erreichte, aber er änderte für immer unsere Vorstellung vom Fernen Osten“, sagt der venezianische Buchautor Alberto Toso Fei über Marco Polos Bedeutung bis heute. „Trotz aller Zweifel an ,Il Milione´ ist es ein bedeutender Beitrag an Wissen. In unserer heute so gespaltenen Welt lehrt uns Marco Polo, dass Brücken zu bauen über alles geht“, sieht er eine aktuelle geopolitische Botschaft. Tatsächlich kommt im „Il Miglione“ auch der Kublai Khan als Verbinder statt als furchterregender Tatar vor, dem mehr an Frieden als an Schlachtgemetzeln liegt, wie Francesco Jori herausarbeitet.

So gut versteht sich der mächtigste Herrscher Asiens vertrauensvoll mit Marco Polo, dass er ihn gar nicht heimziehen lassen will. Nur mit dem Vorwand eines Geleitschutzes für eine nach Persien zu begleitende Braut gelingt es den drei Polos, zur See via Hormus im heutigen Iran 1295 nach Venedig heimzukehren. Um ein Vierteljahrhundert gealtert, bärtig und sprachentfremdet, werden sie erst erkannt, als aus ihren schäbigen Mänteln Diamanten purzeln. Reich genug ist die Familie schon vorher, sodass sie im Arsenale, damals größter Rüstungsbetrieb Europas mit 16.000 Arbeitern, eine der Galeeren ausrüsten muss, die gegen Genua zur Schlacht auffahren. Im  Seegefecht bei Curzola/Korčula gerät Marco Polo fast ein Jahr in Gefangenschaft, wo der Mitgefangene Rustico da Pisa Marco Polos Reiseschilderung notiert. Bald ist sie in über 150 Handschrift-Kopien in mehreren Sprachen verbreitet und später mit dem Buchdruck ein Bestseller bis heute.

Als Marco Polo 1324 stirbt, hinterlässt er seiner Frau und drei Töchtern ein beträchtliches Vermögen. Während das mit 9. Jänner 1324 datierte Testament erhalten ist, gibt es eine  „Casa Marco Polo“ nur als so beworbenes Airbnb. Anstelle des tatsächlichen Wohnhauses steht heute, mit Gedenkaufschrift, das Teatro Malibran am Corte del Milion im Sestiere Cannaregio. Weltweit verewigt wird Marco Polo in zahlreichen Filmen, von „The Adventures of Marco Polo“ 1938 mit Gary Cooper bis zur Netflixserie 2014. Literarisch setzt Italo Calvino mit „Le cittá invisibili“ – Die unsichtbaren Städte – Marco Polo und dem Kublai Khan ein Denkmal. Ihr Zwiegespräch über 50 imaginäre Städte mit Frauennamen beklagt den Niedergang von Urbanität und Humanität. Maria Christina Gribaudi, Präsidentin der Städtischen Museen Venedigs, würdigt zum Anlass Venedigs berühmtesten Sohn: „Die Erzählung von Marco Polo ermöglicht es uns heute zu verstehen, wie die Beziehungen zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen und wie die Routen in den Osten ihre Bedeutung und Relevanz nicht verloren haben.“