Kihnu hat nur 700 Einwohner, aber seit dem Opernball ist die abgelegene Insel Estlands zumindest in Österreich bekannter, weil sich die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas - eine der schärfsten Kritikerinnen Putins, die vom Kreml mittlerweile zur Fahndung ausgeschrieben wurde - als Ballgast von Österreichs Kanzler schon im Vorfeld darauf gefreut hatte, ein Gespräch mit Nehammer über die matriarchialische Gesellschaft in Kihnu zu führen. „Er fürchtet sich schon ein bisschen“, sagte Kallas damals lächelnd im ORF.

Wie Estlands Regierungschefin ist auch Kihnu außergewöhnlich, denn dort haben vor allem die Frauen das Sagen. Die Insel gilt als eine der letzten matriarchalischen Gesellschaften in Europa. Der Grund liegt allerdings nicht in der Fortschrittlichkeit der Männer dort. Es liegt vor allem daran, dass Frauen in Kihnu am Ende immer alles selbst richten mussten: „Über Jahrhunderte fuhren die Männer zur See, und die Frauen mussten sich um das Leben auf der Insel kümmern, um die Kinder, um den Haushalt. Es ist also ganz logisch, dass Kihnu matriarchalisch ist. Doch so Schwarz-Weiß ist es heute nicht mehr, die Zeiten ändern sich“, erklärt Maria Michelson vom „Kihnu Cultural Space“ der Kleinen Zeitung.

2003 wurde die Insel wegen seiner Traditionen auf die Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes gesetzt: Bekleidung, Sprache, Musik, sind so besonders auf Kihnu. Die Frauen tragen den Kört, einen bunten selbst gewebten und genähten Rock, der verrät, wie es um die Person steht: Je roter der Rock, desto fröhlicher ist die Trägerin. Ein blauer oder gar schwarzer Rock zeugen von Trauer und Verlust. „Doch auch der schwärzeste Rock verfügt unten am Saum über einen roten Streifen; er schützt die Trägerin auch in größter Trauer vor weiterem Unglück und Krankheit“, erklärt „Visit Estonia“. Die Anzahl der Röcke geben auch Auskunft über das Vermögen einer Familie. Denn all die Röcke müssen schließlich aus der Wolle der eigenen Schafe hergestellt werden. Das traditionelle Fortbewegungsmittel auf Kihnu ist nach wie vor das Fahrrad. Beliebt sind aber auch Motorräder mit Beiwagen, die noch aus der Sowjet-Ära stammen.

Doch das Inselleben wandelt sich. Die Fischerei ist keine große Einnahmequelle mehr, Haupteinnahmenquelle ist der „saisonale Tourismus, einige arbeiten in der Gemeindeverwaltung, in der Schule, im Museum, im Kulturhaus und in diversen Stiftungen“, zählt Maria Michelsen auf. Auch wenn die Internetverbindung zum Festland superschnell ist: Es gibt keine Industrie.

Um jeden jungen Menschen wird gebuhlt: „Wir organisieren Kulturcamps und Festivals auf der Insel. Vor allem für die jungen Leute, die ihre Wurzeln in Kihnu haben, aber auch für alle anderen, die sich dafür interessieren“, beschreibt Michelson. Geführt wird die Insel der Frauen die letzten Jahre allerdings - von Männern.

Aktuell ist Egon Vohu Bürgermeister Kihnus, davor regierte Ingvar Saare. Der war 23, als er das Bürgermeisteramt 2009 in Kihnu übernahm und sich drei Amtszeiten hielt. Auf die Frage nach dem größten Kapital der Insel erklärt Ingvar Saare der Kleinen Zeitung: „Die Frauen von Kihnu. Sie halten die Haushalte zusammen.“ Als größte Probleme nennt er den „Mangel an Arbeitsplätzen und ein Fährplan, der es nicht erlaubt, auf dem Festland zu arbeiten und auf der Insel zu leben.“ Vor Ingvar Saare war immerhin eine Frau im Bürgermeisteramt Kihnus: Annely Akkerman, die spätere Finanzministerin Estlands.

Warum es in Kihnu schon länger keine Bürgermeisterin gibt? Maria Michelson antwortet knapp: „Es könnte genauso gut eine Frau sein. Zuletzt gab es einfach männliche Kandidaten.“ Aus keiner anderen Sprache hat das Estnische übrigens so viele Lehnwörter entnommen wie aus der deutschen: Arst ist der Arzt, Professor der Professor, und Tere heißt Servus.

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