"Wo geht es hier denn wieder runter?“, fragt sich Hans. Er hat gerade gemeinsam mit seiner Frau Anna einige Höhenmeter der hochragenden, verwinkelten Hafenmetropole erklommen. Mit dem Nachtzug sind die beiden nach Genua gekommen, für einen Wanderurlaub in Ligurien. Bei dieser Gelegenheit schaue man sich auch ein wenig die Stadt an. Klassisch. Genua per se nimmt man als touristische Destination nicht wahr, eher als „Ausgangspunkt“ – und dies zumeist für eine Kreuzfahrt im Mittelmeer. Ein großer Fehler.
Zugegeben: Auf den ersten Blick springt einem die größte Hafenstadt Italiens, eingeklemmt zwischen Meer und den Ausläufern des Apenningebirges, nicht unbedingt ins Auge. Ihre Historie als Industriestadt mit großer Arbeitertradition ab Mitte des 20. Jahrhunderts gab keine touristische Laufbahn vor. Genua, „La Superba“ (die Stolze), hatte das nicht nötig.
Mit dem 500-Jahre-Jubiläum der Entdeckung Amerikas 1992 begann man allerdings, sich seines großen Sohns Christoph Kolumbus – er soll hier geboren worden sein – zu erinnern. Der ebenfalls in Genua geborene Stararchitekt Renzo Piano wurde für die an Land gezogene Weltausstellung im Zeichen des Seefahrers beauftragt, den nüchternen Industriehafen zum Kultur- und Erlebnisareal „Porto Antico“ umzugestalten. Ein erster kräftiger Impuls in Richtung Sehenswürdigkeit. Stolz ist man hier heute etwa auf das größte Aquarium Europas, das damals erbaut wurde.
Von der Industrie zum Urlaubsziel
Die Genueser hatten Lunte gerochen und besannen sich ihres immensen Kulturerbes als Jahrhunderte währende, mächtige Seerepublik. Die übrigens stets in unerbittlicher Rivalität zur zweiten großen Seemacht Venedig stand. Das „Centro Storico“ wurde entstaubt, man legte Geschichte frei, restaurierte und wartete als Europäische Kulturhauptstadt 2004 den Gästen mit Hunderten zugänglichen Kirchen, Palästen, Kastellen und Museen erfolgreich auf.
Das endgültige Ende des kulturellen Mauerblümchendaseins fand Genua mit der Ernennung von 42 „Palazzi dei Rolli“ zum Unesco-Weltkulturerbe im Jahr 2006. Sie sind die Auslese von rund 120 sogenannten „Listen-Palästen“, die die reichsten Adelsfamilien – unter ihnen schillernde Namen wie Grimani, Balbi, Doria, Pallavicini – bauwütig im sogenannten „febbre del mattone“ (Backsteinfieber) Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts aus dem Boden stampfen ließen.
Das Staatsbudget war bescheiden, nicht die privaten Palazzi! So setzte man in für Genueser typischem Pragmatismus und wirtschaftlich gewiefter Manier die schmucken Bauten auf Listen unterschiedlicher Kategorien und machte sie zu beispiellosen „Palästen der Gastfreundschaft“. Je nach Gewichtung des Staatsbesuchs vom französischen König bis zu diversen Feudalherren wurde der Gastgeber ausgelost. Er hatte die teure Ehr‘, der Staat ersparte sich die Ausgaben.
14 dieser Paläste präsentieren sich heute dem Besucher Mauer an Mauer als einzigartiges Abbild des Goldenen Zeitalters der Seerepublik in der berühmten Via Garibaldi. Bereits 1622 war der flämische Maler Peter Paul Rubens davon so beeindruckt, dass er jeden einzelnen Prachtbau in seinem Werk „Palazzi Antichi e Moderni di Genova“ verewigte. Hinter so mancher Fassade verbergen sich großartige Museen. Im Palazzo Tursi zum Beispiel ist das originale Lieblingsinstrument „Il Cannone“ des virtuosen „Teufelsgeigers“ Niccolò Paganini, eines weiteren großen Sohnes der Stadt, ausgestellt.
Ein ewiges Auf und Ab
Als kreatives Pflaster diente Genua paradoxerweise auch einer großen Persönlichkeit aus der Intimfeindin Venedig. Im einstigen Gefängnis des Palazzo San Giorgio, benannt nach dem Schutzheiligen der Stadt, diktierte einst der Kaufmann und Chinareisende Marco Polo einem Mithäftling seine Reiseerlebnisse. Die Geburtsstunde des weltberühmten Reiseberichts „Il Milione“ – er sollte Kolumbus 200 Jahre später inspirieren – schlug in Genua.
Die hübsche, freskengespickte Renaissancefassade des Palazzo San Giorgio sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen, auch wenn dazu die in respektlosem Abstand daran vorbeiführende „Sopraelevata“, die hochgestellte Stadtautobahn, ein Dorn im Auge ist. Oder gerade deswegen.
Hier lässt sich nämlich hautnah erspüren, wie sich die Stadt stets mit Gegensätzen und der omnipräsenten Vertikalen arrangiert. Es gibt kaum Platz – also schnurstracks nach oben. Um den Steilhängen ein Schnippchen zu schlagen, lassen sich die kreativen Genueser einiges einfallen.
Seilbahnen, Lifte, Saumpfade
Anna und Hans taten als erfahrene Älpler schon recht daran, mit Wanderschuhen und Wanderstöcken ihre Erkundungstour anzutreten. So lassen sich die mit Ziegelsteinen bepflasterten „crêuze“ am besten bewerkstelligen. Einst dienten sie als Saumpfade für Lastentiere von der Küste in die Berge. Heute belohnen sie den Gehtüchtigen, der keine Steilheit scheut, mit fantastischen Blicken aufs Meer.
Aber wie bewältigen die Genueser die bis zu 300 Höhenmeter steile Stadt im täglichen Leben? Da wären einmal zwölf Lifte, zwei Standseilbahnen und eine Zahnradbahn. Für Touristen ein kostenloses wie köstliches Erlebnis.
Wie in einem Fünf-Sterne-Hotelaufzug, holzgetäfelt inklusive Sitzbank, geht es im Lift Portello-Castelletto hoch. Die Augenweide reicht von den Hügeln von Albaro über die Schieferdächer Genuas und den Leuchtturm, das Wahrzeichen der Stadt, Teile des insgesamt 30 Kilometer langen Küstenstreifens entlang. Dachterrassen auf Augenhöhe mit Kirchturmspitzen und Autos auf Parkhäusern – verschiedene Ebenen effizient und pragmatisch im Einklang.
Jeans, Eisenwaren und der Segen von oben
Zeit, sich ins Gewirr der Altstadt zu stürzen. Am besten stilecht in Jeans – warum? Schon im 16. Jahrhundert färbte man hier Stoffe indigoblau ein und machte aus ihnen resistente Arbeitskleidung. Aus dem „Blu di Genova“ wurden die „Blue Jeans“. Beruhigt lässt sich damit so manche Hausmauer streifen, wenn die mittelalterlichen, rekordverdächtig engen Gässchen, „caruggi“ genannt, gar zu schmal werden.
In sicherer Obhut übrigens: Denn fast jedes Hauseck spendet heiligen Schutz. Unzählige „Edicole“ hüten als eine Art Tabernakel die Stadt. Natürlich wurden sie seit Jahrhunderten aus Frömmigkeit platziert, aber es wäre nicht Genua, steckte nicht auch ein praktischer Grund dahinter. Einst dienten sie, mit Kerzen bestückt, als Gassenbeleuchtung.
Den Segen von ganz oben hat der Pragmatismus auch beim wohl skurrilsten Kirchenbau der Stadt: der Chiesa San Pietro. Sie thront im ersten Stock als Aufsatz von im Erdgeschoss angesiedelten Läden, deren Mietgelder seit jeher als finanzielle Basis dienten. Die Menschenschlangen davor gelten nicht der Kirche, sondern dem legendären Eisenwarenladen, der einfach alles im Sortiment hat. Aus sakralen Gründen verdient die gewaltige Kathedrale San Lorenzo Aufmerksamkeit, die mit 700 Jahren Kunstgeschichte beeindruckt.
Zur Abendsonne gönnt sich der Genießer einen klassischen Aperitivo mit einem traditionellen Glas „Asinello“ und einem Stück „Focaccia“, dem variantenreichen, luftigen Fladenbrot. Am besten in den mittelalterlichen Laubengängen „Sottoripa“ unten am Hafen. Dort, wo man Genua so richtig inhalieren kann. Mag das authentische Flair der relativ kurzen touristischen Laufbahn geschuldet sein – es ist ein wahres Geschenk für jeden Gast.
Regina Rauch-Krainer