Es dauert keine fünf Minuten, bis es das erste Mal an der Angelrute zupft. „Ich hab einen!“ Der Fang zimmert dem Nachwuchspetrijünger ein lautes Lächeln ins Gesicht. Mit großen Augen beobachtet er den Schwimmer, der wie von Geisterhand nach unten gezogen wird, für einen Augenblick in der Tiefe verschwindet, bevor er sich wieder an die Oberfläche schraubt, nur um wieder abzutauchen. Vorsichtig holt der Zehnjährige die Angelschnur ein. Ja, da zappelt er dann, silbrig funkelnd - der erste Fisch Marke „selbst gefangen“.
Den nächsten Wurm auf den Haken stecken? Das darf dann aber doch jemand anderer machen. Stolz kann man sich erangeln, Mut nicht. Wobei es für den eigenen, großspurig angekündigten, aber Dann-doch-nicht-Sprung ins kühle Nass zumindest eine coole Begründung gibt: 17 Grad Wassertemperatur.
Der Päijänne-See geizt an diesen Spätsommertagen mit kuscheligen Badekonditionen. Dafür hat man Finnlands zweitgrößten - die 1118 Quadratkilometer entsprechen zwei Mal der Fläche des Bodensees - und längsten See - von Jyväskylä im Norden bis Lahti im Süden sind es rund 170 Kilometer - zu dieser Zeit im Jahr für sich allein. Die meisten der unzähligen Wochenendhäuser und Badehütten, die sich unter die ufernahen Bäume ducken, sind winterfest gemacht. Nur in den eigenen vier Wänden pulsiert abenteuerlustiges Ferienleben.
„Und am Ende der Straße steht ein Haus am See ...“ singt sich Peter Fox' Lebensglückhymne ins Unterbewusstsein. Die imaginäre Straße ist der Steg, das „Haus am See“ ist echt. Da steht im besten Wortsinn: ein Haus am See. Okay, das mit dem Haus klingt vielleicht ein bisschen großspurig, aber eine schwimmende Luxusgartenhütte ist es (nicht nur optisch) allemal. Das Hausboot lässt es an nichts mangeln. Wohnküche, Schlafzimmer, Veranda, Terrasse samt Griller und als besonderes Highlight: eine Sauna an Bord, durch deren Glastüre man dem Blick endlosen Auslauf über Finnlands wasserreichsten und tiefsten See geben kann.
Manchmal schiebt sich vielleicht eine der 1186 Inseln, die es hier geben soll, ins Panorama. Schäfchenwolken sind pflückreif in den tiefen Himmel gehängt. Dessen Jeansblau färbt sich abends, wenn die Sonne ihre letzten Strahlen wie Suchscheinwerfer durch den Uferwald schickt, blutrot bis dunkelorange. Mehr Seenplatte-Idylle geht nicht? Doch!
Wer jemals auf einem Stand-up-Paddelboard über die zu dieser Tageszeit wie ein samtiges Seidenleintuch aufgespannte Wasseroberfläche geschwebt ist, kann erahnen, was Unto Mononen vor Augen gehabt haben muss, als er 1955 „Satumaa“ komponierte. „Satumaa“, übersetzt „Feenland“, ist - wiewohl ein Tango - so etwas wie das „I Am from Austria“ Finnlands: die hochpopuläre Schattenhymne von Suomi, das mit einer Fläche fast so groß wie jener Deutschlands, aber nur 5,5 Millionen Einwohnern zu den am dünnsten besiedelten Ländern Europas gehört.
Am Päijänne-See, quasi dem Garten vor, hinter und rund um die schwimmende Gartenhütte, sind Menschen ohnehin Mangelware. Niemand ist mehr zu sehen, sobald man das Hausboot erst einmal unter der mächtigen Hafenbrücke Jyväskyläs und durch den nur 35 Meter schmalen Äijälänsalmi-Kanal (Finnland hat wohl den höchsten „ä“-Verbrauch aller europäischen Sprachen) gelenkt hat. Bojen weisen einem umweglos den Weg Richtung Ruhemonopol. Dann und wann eine kleine Korrektur am Steuerrad, um nicht vom am Navigationsgerät violett gestrichelten Idealkurs abzukommen und gegen zu seicht herumlungernde Steine zu krachen.
Dann und wann ein kurzer Blick auf die Angel und ihren Schwimmer. Dann und wann eine konzise Beratung mit der Familiencrew, in welcher Bucht der Anker das nächste Mal zu Wasser gelassen werden soll. Aber vor allem: ganz viel Tagträumen, bei dem die dahinplätschernden Wellen den Rhythmus vorgeben. Das klingt so kitschig, wie es sich anfühlt. Nervöse Hektik kommt erst auf, als ein Anlegemanöver an einem Steg ansteht. Trotz Schritttempo driftet das unter der Bordkante recht unförmige Schinakel beim ersten Mal elegant an allen angepeilten Fixierringen am Steg vorbei. Zweiter Versuch. Geht ja!
Zur Belohnung wird die Sauna mit den bereitgelegten Birkenscheiteln angefeuert. Hinter der Reling warten der See als XXL-Abkühlbecken und später eine überfallsartige Müdigkeit. Abtauchen ins tangohymnische „Satumaa“, das ominöse Feenland jenseits des Meeres, Sehnsuchtsort der als schweigsam und schwermütig etikettierten Finnen. Weniger still sind die Schwäne, die am nächsten Morgen als Weckkommando angeschwommen kommen.
Das klobige Etwas mit seinen Glupschaugenfenstern in den Holzwänden und den drei Kaminen auf dem Dach, das da in ihrem Revier herumschunkelt, scheint die Tierfamilie zu stören. Die Fremdlinge, die mit ihren Smartphones versuchen, die Eingeborenen zu fotografieren, tun das Ihre zur kurzzeitigen Aufregung. Sie legt sich rasch. Der Päijänne-See ist keine Kulisse für Ärger - auch wenn Finnlands Lieblingsbuchstabe darin vorkommt. Stattdessen: raus mit der Angel und auf das nächste Zupfen warten. Es kommt schneller als man „Kiittää!“ (Danke!) sagen kann.
Klaus Höfler