Venedig, Santa Lucia, die Frühlingssonne blinzelt durch verstaubte Bahnhofsfenster. Wie spät es genau ist? Schwer zu sagen. Das Auge erspäht nicht eine einzige Uhr, an der die Zeiger richtig positioniert sind. Purer Zufall, technisches Problem - oder gar gefinkelter Schachzug? Die passende Einstimmung auf die Reise im Orient-Express ist es auf jeden Fall: Einen Tag lang spielt Zeit keine Rolle, Alltagssorgen sind fehl am Platz, genauso wie Internet oder Handy - Jeans und Turnschuhe sowieso. Wer in den dunkelblauen Waggons mit goldenem Wappen fährt, muss auch seine Kleidung dem eleganten Transportmittel anpassen. Eine mittelalterliche Dame scheint die Aufforderung, sich von der historischen Ausstattung inspirieren zu lassen, allzu wörtlich genommen zu haben. Mit ihrem Hut wirkt sie, als ob Scotty sie direkt aus Ascot herbei gebeamt hätte. Aber: Noblesse oblige - man verreist ja schließlich mit dem "König" unter den Zügen!

Balanceakt. Selbst in einem solch royalen Schienengefährt ist man vor den Problemchen, die eine Bahnfahrt mit sich bringt, nicht gefeit. So versucht man, anfangs mehr schlecht als recht, sich den Gang entlang zu hanteln. Zugmanager Vincent Gullon über den Balanceakt: "Der Körper braucht rund einen Tag, um den Gleichgewichtssinn anzupassen." Gut zu wissen.

Unterwegs mit einer Legende. Kurz nach der Abfahrt ein Stopp. Am Bahnsteig hat sich ein schnittiger Italiener zu seinem Kind hinunter gebeugt und deutet auf den VSOE. Wessen Augen mehr funkeln, jene des Sohnemanns oder Herrn Papa? Schwer zu sagen. Und wenn man die Gruppe, die ihre Kameras zückt, so beobachtet, wird einem erstmals richtig bewusst, mit welcher Legende man unterwegs ist.

Kohle für die Waschkabine. Es klopft. Steward Wolfgang Eipeldauer macht seinen Antrittsbesuch. Er beschreibt, wie man die Waschkabine öffnet, welcher Schalter wozu dient und wie das Schloss funktioniert. "Hier haben Sie auch noch das Nachtlicht und die Klingel." Ob die beiden oft verwechselt werden? "Ja, aber ich bin ja sowieso rund um die Uhr für Sie da." Plötzlich entschwindet der junge Wiener an das Wagenende. Es ist Zeit, Kohle nachzulegen - für heißes Wasser und kuschelige Wärme. Geheizt wird wie in guten alten Zeiten, und auf Duschen, Klimaanlage und Abteil-Toiletten wurde verzichtet.

Herausgeputzt zum Dinner. Die Nacht bricht herein, der Arlberg naht. Zeit, sich für das Abendessen herauszuputzen. Die "Manolos", die sonst sorgsam in Seidenpapier gewickelt in der Originalschachtel wohnen, haben ihre Premiere - es ist der perfekte Anlass. Auf dem Weg zum Speisewagen passiert man das Reich von Christian Bodiguel. Der Chef de Cuisine tauschte vor 25 Jahren ein Champs-Elysees-Restaurant gegen die acht Quadratmeter große "Puppenküche". Gibt es irgend einen Wunsch, den er nicht erfüllt? "Pommes Frites. Die Brandgefahr wäre zu groß." Und wo beendet man den Abend standesgemäß? Im Barwagen, mit einem Glas Champagner in der Hand und den Klängen des Klavierspielers im Ohr.

Pantoffeln und Kimono. Inzwischen hat der Steward das Abteil für die Nacht präpariert. Das Sofa ist jetzt ein Bett, Pantoffeln und Kimono in Dunkelblau warten auf ihren Einsatz, das Licht macht auf schummrig, den Polster zieren Orchidee und süßer Gute-Nacht-Gruß. So lässt es sich schlummern!

Croissant ans Bett serviert. Der Orient-Express rollt durch die Nacht - und Frankreich. So sanft, dass man erst durch den Duft von frischem Kaffee geweckt wird. Man lässt Transfette einmal Transfette sein. Wo sonst bekommt man schon ein Croissant ans Bett serviert?

Angekommen. Plötzlich flitzen bereits die Häuser der Pariser Vororte am Fenster vorbei. Es ist kurz nach 8 Uhr, der Gare de l'Est naht. Schade: Denn mittlerweile hätte man auch die Sache mit der Balance so schön im Griff.