Nordmazedonische Füchse mögen also Schuhbänder. Die nachtaktiven Tiere haben zunächst die zum Lüften vor die Hüttentüre geparkten Wanderschuhe in den nahen Wald verschleppt und dann dort fein säuberlich sämtliche Bandenden abgeknabbert. Jetzt ist Improvisation gefragt, um den notwendigen Halt im Wanderschuh wiederherzustellen. Immerhin geht es heute von der neuen Spiridon-Hütte rauf auf den 2255 Meter hohen Magaro Peak. Den Berg zeichnet zwar keine zerklüftete Felswanddramatik aus, aber bis man sich von der atemberaubenden Aussichtsqualität auf dem sanft gerundeten Höhenrücken des Galičica-Gebirges überzeugen kann, führt der Weg doch stetig nach oben. Und das jedes Jahr sogar fünf Millimeter höher: Die Plattentektonik lässt diesen Gebirgszug wachsen! Es ist die südlichste und letzte Etappe des High Scardus Trails, eines über 362 Kilometer langen Weitwanderwegs mit 20 Etappen im Grenzgebiet zwischen Nordmazedonien, dem Kosovo und Albanien. Startpunkt ist Staro Selo rund eine Autostunde nördlich von Skopje, Ziel der Ohridsee – dazwischen liegen fünf abgelegene und selten begangene alpine Gebirgszüge inklusive dem Golem Korab, dem mit 2764 Metern höchsten Berg des Westbalkans, und acht Grenzübertritte.

Die „grüne Grenze“ ist auch am Magaro nur ein paar Schritte entfernt. Die zweisprachige Gipfelmarkierung erinnert mit ihrem weißen Betonsockel und dem roten „Deckel“ an einen hochgeschossenen Fliegenpilz, das Panorama an die Nockberge im steirisch-kärntnerischen Grenzgebiet. Nur, dass hier alles noch weitläufiger ist. Im Westen wandert der Blick zunächst entlang der malerischen Uferlinie des Prespasees und verläuft sich dann im Dunst des Horizonts irgendwo im griechisch-nordmazedonisch-albanischen Dreiländereck. Im Osten glitzert der gut 1500 Meter tiefer gelegene Ohridsee. Eine Perle. Der See ist zehnmal so groß wie der Wörthersee, fast 300 Meter tief und gilt mit 1,4 Millionen Jahren als einer der ältesten in Europa. Ein Naturparadies, das mehr als 200 teilweise nur hier vorkommenden Tierarten wie der Ohridforelle, urzeitlichen Krebsen, Vögeln und Schildkröten als Lebensraum dient.

Wander zwischen zwei Seen

Im und rund um den See spiegelt sich aber auch die lange Geschichte menschlicher Besiedelung in der Region wider. So fanden Forscher vor knapp einem Jahr die Überreste der mit fast achttausend Jahren vermutlich ältesten Pfahlbausiedlung Europas. Im See liegen außerdem noch römische Amphoren und Tonnen von Munition und Minen aus dem Ersten Weltkrieg. Heute verläuft mitten durch das kristallklare Wasser die Staatsgrenze zwischen Nordmazedonien und Albanien. An der Südspitze des Sees liegt sie in Griffweite zum Kloster Sveti Naum, dem Endpunkt dieser Tagesetappe. Nach dem fordernden Abstieg vom Magaro über goldglänzende Almgrasböschungen und verschlungene Waldwege haben die Oberschenkelmuskeln und Kniegelenke aber eher Lust auf Erholen am nahen Strand als auf eine ausgedehnte Besichtigungstour durch die Unesco-Welterbestätte.

Auch Enver Hoxha wusste, dass sich der See gut zum entspannten Baden eignet. Die Parkanlage Drilon bei Pogradec, keine zwei Kilometer von Sveti Naum auf der albanischen Seite der Grenze, soll zu den Lieblingsplätzen von Albaniens Langzeitstaatschef gehört haben. Ob er jemals wandern war, ist nicht überliefert. Dass er sein Land nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vom Rest Europas und allmählich von der Welt abschottete und es mit Betonbunkern übersäte, ist dagegen überall sichtbar – auch entlang des High Scardus Trails. Es sind meist verfallene, teilweise als Abstellraum verwendete, jedenfalls bizarre Zeugen einer verirrten Staatsideologie. Während es Bunker im Überfluss gab, mangelte es an Lebensmitteln.

Gruselig klingt auf dem Weg Richtung Grama-Alm, was Fitim Spahiu über diese Zeit der absoluten Isolation zu berichten weiß. Der Guide zeigt auf einen schmalen, relativ ebenen Geländeabschnitt unter markanten Felsspitzen: die Grenze. Früher gab es hier einen rund zwei Meter breiten Streifen aus herangeschlepptem, feinkörnigem Sand, erzählt Spahiu. Fanden die Grenzbeamten darin Fußspuren, wussten sie von illegalen Grenzübertritten. Und selbst wenn der Flüchtige da längst im wahren Wortsinn „über alle Berge“ war, wurde zumindest die zurückgelassene Familien drangsaliert und schikaniert.

Tourismusboom in Albanien

Albanien galt damals als letzte Bastion des Stalinismus in Europa. Paragraf 47 des Strafgesetzbuchs definierte Flucht als „das schwerste Verbrechen, das der Bürger der Sozialistischen Volksrepublik Albanien begehen kann“. „Wir waren eine isolierte Diktatur, das Nordkorea Europas, in der es Ende der Achtzigerjahre noch gefährlich war, die Beatles zu hören, in der jeder Familie pro Monat vier Kilo Fleisch zugeteilt wurde und sich Menschen mit einer Flasche nachts um ein Uhr vor einem Geschäft angestellt haben, um am nächsten Morgen Milch zu kaufen“, erinnerte sich Premierminister Edi Rama 2022 in einem Interview: „Aber wir haben in diesen 30 Jahren seither mehr geschafft als jedes andere Land in Europa.“ Ganz Unrecht hat er nicht. Er steht der Regierung mit dem laut Vereinten Nationen weltweit höchstem Frauenanteil vor – zwölf von 17 Regierungsämtern sind weiblich besetzt. Der bereits 2009 gestellte Beitrittsantrag zur EU mündete 2022 in die Aufnahme konkreter Verhandlungen, der Tourismus boomt. Allein im ersten Halbjahr 2023 reisten 3,4 Millionen ausländische Touristen an. Ein neuer Höchststand und ein Plus von 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Tourismus trägt mittlerweile laut „Tourism and Hospitality in Albania 2022“-Studie der Entwicklungsagentur der Vereinten Nationen fast ein Viertel zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Über zehn Millionen Ausländer reisten dem albanischen Statistikamt zufolge 2023 ins Land ein. Vor zehn Jahren waren es nicht mal vier Millionen.

Arabische Investoren bauen indes Häfen, chinesische Staatsbetriebe Autobahnen und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt beim Aufbau nachhaltiger Tourismuskonzepte, die auch die einheimische Landbevölkerung miteinbeziehen. Als Paradebeispiele dafür gelten Weitwanderwege wie „Peaks of the Balkans“ (192 Kilometer) und der „High Scardus Trail“. „Wir wollen durch Maßnahmen in Zusammenhang mit dem Trail in den drei beteiligten Ländern bis zu 400 abgesicherte Jobs in ländlichen Regionen schaffen, die bisher wirtschaftlich eher schlecht gestellt und ohne große Perspektive waren“, erzählt GIZ-Repräsentant Ekrem Hyseni vom 2017 festgelegten Ziel. 

Um die Entwicklung voranzutreiben, vertraut man dabei auch auf das Fachwissen des Kärntner Unternehmens Trail Angels, das neben eigenen Reisen für Touristen auch Beratungsleistungen für Destinationen anbietet. So war es auch federführend an der Ausarbeitung des aus bestehenden Hirtenpfaden, alten Bergtransversalen wie der Via Egnatia, die einst Rom mit Konstantinopel verbunden hat, und neuen Wanderwegen zusammengesetzten High Scardus Trails beteiligt. Unter anderem stammt von ihnen die Idee eines Gepäcktransports zwischen den einzelnen Etappenorten, sodass man als Wanderer mit einem Tagesrucksack das Auslangen findet. Auch die zunehmend besser werdende Beschilderung und Markierung der Wege sind Teil des Trail-Angels-Plans.

Das Konzept scheint aufzugehen. Erst Ende März wurde eine eigene „Destination Management“-Organisation rund um die kosovarische Extrembergsteigerin Uta Ibrahimi gegründet. Ibrahimi, die sich in den Gebirgszügen rund um Prizren auf ihre 8000er-Expeditionen vorbereitet, unterstützt auch mit ihrer eigenen Stiftung Mädchen aus benachteiligten ländlichen Gemeinden und forciert die internationale Vernetzung lokaler Organisationen.  

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Entlang der Route stößt man aber auch immer wieder auf Zeugen und Zeichen dessen, was der deutsche Philosoph Ernst Bloch einmal als die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet hat. Zum Beispiel, wenn man halbnomadischen Schafhirten begegnet, die riesige Herden über die Almen und Pässe treiben, bewacht von respekteinflößenden Šarplaninac-Hirtenhunden – und als Kontrast nachts die Satelliten-Lichterkette Starlink über den sternenüberfluteten Himmel braust. Wenn man auf der Grama-Alm, wo Email Spata während der Sommermonate ein rustikal-spartanisches Camp für Wanderer betreibt, in dessen wackeligem Holzverschlag sitzt und die auf einem Tischherd zubereitete üppige Eintopfkost samt aromatischem Schafkäse, frischem Gemüse und selbstgebackenem Brot genießt – und als Gegenentwurf zum traditionellen Essen draußen eine kleine Gruppe jogginghosentragender Männer Energydrinks und Zigaretten zu ihren Hauptnahrungsmitteln erklärt haben. Sie sind auf Heimaturlaub, angereist aus halb Westeuropa, mit protzigen Geländewägen, die als breitreifige Kronzeugen für einen sozialen Aufstieg herhalten müssen. Oder wenn man mit einem jungen Burschen spricht, der auf einem Abhang entlang des Trails sitzend mit einem Holzstock unablässig auf Wacholderäste eindrischt und für die so aus dem Staudenwerk geerntete Tageslosung von zehn Kilo Beeren 25 Euro verdient – und das den durchaus westliches Niveau erreichenden Ginpreisen in der Partymeile von Tirana gegenüberstellt.

Derartige Gegensätze innerhalb einer Gesellschaft gibt es freilich vielerorts, das Bild der sozialen Gemengelage scheint in dieser Region des Westbalkans aber mit besonders stark kontrastierenden Farben gemalt zu sein. Die Schafhirten, die Satelliten, der „Beerenschläger“, das SUV-Partyvolk – sie alle sind im selben „Jetzt“ daheim, scheinen aber aus unterschiedlichen Welten zu stammen.

Am High Scardus Trail trifft man aber auch auf Beispiele, wo auf unterschiedliche Weise versucht wird, eine Brücke zwischen den Ungleichzeitigkeiten zu bauen. In Radomirë, wo die zehnte Etappe in einem mutig ausgebauten Gästehaus am Ortsrand endet, haben Ausgewanderte mit großzügigen Spenden eine überdimensionierte Moschee finanziert, um die engen Familienbande in die Heimat nicht gänzlich zu durchtrennen. Andernorts springt der Staat ein, hat landesweit insgesamt hundert Dörfer als „touristische Highlights“ deklariert und unterstützt die Konservierung der alten Bausubstanz so gut es geht.

Knapp die Hälfte der einst 200 Häuser gibt es etwa in Rabdisht noch, die wenigsten allerdings auch tatsächlich bewohnt. Es sind geduckte Gebäude mit dicken Steinmauern, kunstvoll aufgeschlichteten Steinzäunen und fachmännisch gedeckten Steindächern und dazwischen holprigen, steingepflasterten Gassen. Ein uriges Ortsensemble, dem man sich auf der zwölften Etappe des High Scardus Trails nach einer ausblicksreichen Wanderung von einer hohen Passquerung kommend quasi aus der Vogelperspektive nähert.

So kühl und ablehnend die leergeräumten Gassen wirken, so gemütlich und gastfreundlich entpuppt sich das Leben hinter den Steinen. Wieder so eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Denn nicht nur in Gästehäusern wie jenem von Festime und Sabri Shahini umarmt einen die sprichwörtliche Gastfreundschaft des Balkans. Es reicht ein längerer Blick, ein kürzeres Gespräch – und schon findet man sich im gepflegten Garten, unter einer Laube oder einem Obstbaum wieder und hält ein Glas mit selbst gemachtem Saft oder Schnaps in der Hand. Wer dort von gefräßigen Füchsen erzählt, wird maximal milde ausgelacht.