Angesichts einer Allee tritt die Frage, wo die Straße zwischen den Baumreihen eigentlich hinführt, in den Hintergrund. Man ist einfach froh, wenn sie einen entlang des Wegs möglichst lange begleitet. Sich treiben zu lassen, ist in Ermland und Masuren, einer Region im Nordosten Polens, ohnehin die beste Art der Fortbewegung. Der Alleen wegen, aber auch der unzähligen Seen. Das Blau des Wassers und das Weiß der Bootssegel blitzt unentwegt aus dem opulenten Grün hervor. Und immer dabei ist das unbestimmte Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, so nah liegt hier die idealisierte Landschaft der Fantasie an der Realität.

Eine idealisierte, aber auch eine Landschaft mit wechselhafter Geschichte, die immer wieder Menschen, ganze Völker kommen und gehen sah. Der Deutschritterorden legte mit seinen Backsteinburgen ab dem 13. Jahrhundert das Fundament für das 1701 ausgerufene Königreich Preußen, weshalb sehr viele polnische Ortsnamen eine deutsche Entsprechung haben. So ist Bartoszyce auch bekannt als Bartenstein, Olsztyn – die Hauptstadt der Woiwodschaft mit malerischem Marktplatz und Arkandengängen – als Allenstein.

Pałac Galiny war einst Schloss Gallingen – dann eine Ruine, die Joanna und Krzysztof Pałyska aus Warschau 1995 entdeckten und zu retten beschlossen. Mehr als 20 Jahre später ist das Bauwerk der Renaissance kurz vor der Fertigstellung und ein Hotel, der einst verwilderte Schlosspark hat Gestalt angenommen und im Vorwerk werden wieder Pferde gezüchtet, wie es in der Region lange Tradition hat. „Der Ort lehrte uns Demut und Geduld“, sagt Joanna, stolz auf dieses kleine Paradies auf Erden.

Pruzzenweib und Mäuschen

Schloss Steinort hingegen ist immer noch eine Baustelle. Am einstigen Eingangsportal ist der Putz abgeschlagen, die nackten Ziegel leuchten rot. Davor parkt ein betagter Schnauzenlaster, der Holztrame geladen hat. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung während Ostblockära und Wendejahren wird der einstige Stammsitz der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff am weiteren Verfall gehindert. Herrschaftlich steht es auf einer Landzunge mitten im Meer der Seen, Segelboote wiegen sich im Sonnenschein in der Marina, eine leichte Brise frischt auf, der Kellner serviert auf der Sonnenterrasse des „Baba Pruska“ (Pruzzenweib) hausgemachte Limonade.

20 Kilometer weiter, unter einem dichten Blätterdach, lag der Bau der Bestie. 837 Tage hatte sich Adolf Hitler während des Zweiten Weltkriegs im Führerhauptquartier Wolfsschanze versteckt. Am 20. Juli 1944 deponierte Graf von Stauffenberg in einer Baracke eine Bombe, die um 12.42 Uhr zwar detonierte, aber ihr Ziel verfehlte. Hitler verließ den Bunker unverletzt, dessen Reste Mutter Natur langsam zurückerobert. Das „Unternehmen Walküre“ wurde auch hinter den Mauern von Schloss Steinort komponiert, Heinrich Graf von Lehndorff war einer der Konspiratoren. Drei Jahre lang musste er mit seiner Gattin Gottfriede ein Doppelleben führen; gegen seinen Willen war Reichsaußenminister Ribbentrop im Westflügel einquartiert worden. Da möchte man nicht einmal Mäuschen gewesen sein.

Stinthengst und Bärenfänger

Mikołajki (Nikolaiken) ist als touristisches Zentrum der Masuren im Sommer nur selten mit der seligen Ruhe anderer Orte am Wasser gesegnet. „Wir waren heuer noch kein einziges Mal schwimmen“, resümiert Karolina in perfektem Deutsch, wie ausgebucht ihre Gästepension ist. Wobei diese Bezeichnung den Kern der Sache nicht trifft, wenn man im Garten unter alten knorrigen Apfelbäumen sitzt und das Kleinod beschaut, dass sie und Marek aus einem bescheidenen Einfamilienhaus gemacht haben. „Marek hat alles selbst gebaut. Er hat goldene Hände.“ Karolina aber zweifelsohne auch, wie man spätestens beim polnischen und damit opulenten Frühstück erkennt. Die Salzgurken – Poesie im Einmachglas.

Besonders großer Bahnhof herrscht am Kai von Mikołajki, wenn die mehr als 40 Meter lange „Chopin“ anlegt. Das elegante zweimastige Segelschiff im Stil einer Brigg aus dem 19. Jahrhundert bringt seine Gäste bei feiner Bewirtung an einen langen Arm des Spirdingsees, mit 114 km2 der größte in Polen. So lassen sich die Ausmaße der Eylauer und Masurischen Seenplatten erst ansatzweise fassen.

Die schilfgegürtete Wasserwelt hat ihre eigenen Legenden hervorgebracht wie etwa den gekrönten Stinthengst, Wünsche erfüllendes Wappentier von Mikołajki. Oder die vom letzten Bären der Masuren, der 1943 erlegt worden sein soll. Seine (vermeintliche) Ausrottung verwundert nicht, wird hier doch schon seit dem 15. Jahrhundert gern dem „Bärenfang“ zugesprochen, einem Likör aus Honig, Gewürzen und bis zu 45-prozentigem Alkohol. Vielleicht eine Erklärung für allerlei Seemannsgarn und Jägerlatein.

Wild und Pilze

Der Masurische Landschaftspark ist der älteste, aber nicht der einzige in der Region. Der Weg dorthin führt durch Piecki, Gałkowo und Wojnowo, in denen manche Straßen von typischen kleinen Holzhäusern mit gepflegtem Bauerngarten und Marterl gesäumt sind. Zwei der Orte wurden einst von Altgläubigen gegründet, einer Glaubensgemeinschaft, die sich von der russisch-orthodoxen Kirche abgespalten hatte. Geblieben sind von ihnen erbaute Kirchen und das Philipponenkloster am Ufer des Duś-Sees.

Zwar mag es in Masuren keine Bären mehr geben, aber mit Wölfen, Wisenten und Elchen durchstreifen ausreichend beeindruckende Spezies die dichten Wälder. Genauso wie die Masuren selbst, also die Einwohner, denn hier ist der Volkssport das Pilzesammeln. Fast 100 verschiedene Sorten landen in den Körben, im Herbst herrscht Hochsaison. Die Koniks streifen auf der Halbinsel Popielno lieber über die Wiesen. Dort werden die Ponys, Nachfahren osteuropäischer Wildpferde, seit 1955 gezüchtet. Chefin der Herde von mausgrauen Tieren ist Marta Siemieniuch von der Wissenschaftsakademie in Warschau, ein Teil der Pferde wird im Naturreservat am Spirdingsee ausgewildert.

Wieder frischt eine Brise auf, lässt das Schilf rascheln, kräuselt leicht die Wasseroberfläche, das Segel eines kleinen weißen Bootes bauscht sich. Und mehr braucht es auch nicht.