Der Jerusalemer Tempel war den Juden alles: Ort der Verehrung Gottes, Oberster Gerichtshof, einziger Opferplatz der Juden für den Herrn, Zentrum zur Beobachtung des Mondes, um den Kalender richtig erstellen zu können, Kopieranstalt für die Heiligen Schriften, ein enormer Wirtschaftsfaktor, Sitz der Hohen Schulen pharisäischer Prägung und: Er war eine an Größe und Pracht in der gesamten römischen Welt kaum zu überbietende Anlage.

Errichtet war der Tempel von Herodes dem Großen (73–4 v. Chr.) worden, der von seinen Untertanen nicht besonders geschätzt wurde. Mit dem Bau wollte er sich bei den Juden beliebt machen, indem er sich zum neuen König Salomon stilisierte. Dieser hatte an derselben Stelle, aber viel kleiner und 1000 Jahre zuvor, den ersten Tempel für seinen Gott errichten lassen. Doch das Volk blieb skeptisch. Es hatte Angst, Herodes könnte den noch bestehenden Tempel niederreißen und keinen neuen errichten. Um dem Vorwurf zu begegnen, ließ Herodes – so berichtet es der jüdisch-römische Historiker Flavius Josephus – tausend Priester zu Steinmetzen ausbilden, damit das Allerheiligste ja nicht von unreinen Händen berührt werde.

Insgesamt umbaute Herodes ein Areal von 144.000 Quadratmetern, ein Vielfaches der Zahl Zwölf, die in der jüdischen Tradition eine Zahl der Fülle und Unendlichkeit darstellt. Allein damit wollte er seine eigene Größe und die seines Vorhabens beweisen. Das ganze Areal war mit Steinplatten unterschiedlicher Farben gepflastert und im Westen, Norden und Osten von 15 Meter hohen und 15 Meter tiefen Säulenhallen umgeben, deren Dachkonstruktion aus edlem Zedernholz gefertigt war. Die südliche Umfassung bestand aus der „königlichen Halle“, die 185 Meter lang, 30 Meter hoch und 35 Meter breit war. Hier hatten die Viehhändler und auch die Geldwechsler ihren Platz.

Im Nordwesten des Tempelplatzes ließ Herodes die Festung Antonia erbauen, von der aus er den gesamten Tempelbezirk kontrollieren konnte. Hier soll, einer nicht gesicherten Tradition nach, auch der Prozess gegen Jesus stattgefunden haben. Die „Antonia“ wurde beim Aufstand der Juden gegen die Römer (66–70 n. Chr.) ebenso zerstört wie der Tempel selbst. Von ihm ist nur die westliche Begrenzungsmauer, die sogenannte „Klagemauer“, erhalten geblieben.

Der Tempel war in konzentrischen Höfen angelegt. Der äußerste war jener der Heiden, es folgten zum Allerheiligsten hin jener der Frauen, der der Männer und der der Priester. Das Zentrum bildete das Heiligtum, das über 40 Meter hoch gewesen sein soll und sich in Vorhof, Haupthalle und Allerheiligstes unterteilte. Um zu verhindern, dass sich am Dach Tauben niederließen und den heiligen Ort verunreinigten, ließ Herodes dieses mit goldenen „Nadeln“ bestücken.

In der Haupthalle des Heiligtums standen der siebenarmige Leuchter aus Gold, der Tisch für die Schau-Brote und der Räucheraltar. Das Allerheiligste war von einem 24 Meter hohen prächtigen Vorhang abgetrennt, der in Babylon gefertigt und in den Farben Blau (Luft), Scharlach (Feuer), Linnen (Erde), Purpur (Meer) und mit Goldfäden gewoben gewesen sein soll. Er soll das Firmament und damit die kosmische Dimension Gottes symbolisiert haben. Das Allerheiligste war an den Innenwänden geschmückt, aber leer. Gottes Allgegenwart ließ sich in keine Symbole fassen.

Der Tempel war Jesus vertraut

Dieser Tempel war Jesus vertraut: Erstmals war er im Alter von 40 Tagen dort. Maria war der Vorschrift gefolgt, sich nach der Geburt eines Buben zu „reinigen“. Zudem musste sie Jesus, der wie jeder Erstgeborene als Gottes Eigentum galt, im Tempel „darstellen“ und durch ein Geldopfer auslösen. Später hören wir noch einmal vom 12-Jährigen im Tempel. Über die folgenden knapp 20 Jahre verlieren die Evangelisten aber kein Wort. Im Prozess gegen ihn antwortet Jesus dem Hohepriester Hannas auf die Frage nach seiner Lehre: „Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen.“ So beschützt er die Ehebrecherin im Tempel, die nach dem Gebot des Moses gesteinigt hätte werden sollen. Er rettet sie, indem er die Pharisäer mit dem Satz angreift: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!“ (Joh 8,1). Und auch das Lob Jesu auf die arme Witwe, die in den Opferkasten die kleinste aller Münzen warf, spielt im Tempel. Am Beispiel dieser Frau, „die kaum das Nötigste zum Leben hat“, kritisiert er reiche Mitbürger, die von dem vielen, das sie besitzen, nur einen kleinen Teil geben.

Mit der „Reinigung“ des Tempels begeht Jesus eine unerhörte Provokation, sodass der Hoherat seinen Tod fordert (Mt 21, 12 ff). „Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und Taubenhändler um und sagte zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden. Ihr aber macht daraus eine Räuberhöhle.“ Darauf riefen die Kinder, die im Tempel waren: „Hosanna dem Sohn Davids“. Als sich die Schriftgelehrten über diese messianische Zuschreibung ärgerten, die Jesus sich gefallen ließ, antwortete dieser mit einem Vers aus dem Psalm 8: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob!“

Die Kritik Jesu an den Zuständen im Tempel war prinzipiell berechtigt, denn die Preise für die Opfertiere waren überhöht. So wurde für eine Taube zuweilen der Preis eines Gold-Denars verlangt. Auch der Wechsel von römischen Münzen, die das Porträt des Kaisers zeigten und somit rituell nicht rein waren, in den angeblich koscheren tyrenischen Schekel für den Gebrauch im Tempel war sehr fragwürdig. Denn auch diese Münze aus Tyrus zierte eine Figur: die des Gottes Melkart, einer Variante des Gottes Baal, den der Prophet Elias bereits im neunten Jahrhundert vor Christus bekämpft hatte.

Das massive Auftreten eines formal nicht gebildeten Mannes aus dem „heidnischen Galiläa“, sein messianisches Selbstbewusstsein und die fundamentale Kritik am religiösen Establishment machte die Mitglieder des Hoherats ängstlich und verärgerte sie. Ängstlich, da sie es waren, die gegenüber den Römern für Ruhe und Sicherheit verantwortlich waren; verärgert, da sie ihre Autorität untergraben sahen. So gab es nur eine Konsequenz, die der Hohepriester Kajaphas ausspricht: „Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“

Lesen Sie morgen: Nazareth – die Palmen des Paradieses