Ein regnerischer Tag am See Genezareth. Spaziergang nach Kapernaum, der „Stadt Jesu“, in der sich das öffentliche Wirken des Nazareners konzentriert hat. Schifffahrt am See. Das galiläische Meer, ist der lebensspendende Mittelpunkt der Wanderlandschaften des Jesus aus Nazareth und seiner Freunde. Wer die Texte des ersten Testamentes aufmerksam liest, findet in den Elementen von Wasser, Boden, Sonne und Wind die deutlichsten Bilder, in denen die Bibel von der Gegenwart Gottes spricht. So gesehen ist der biblische Mensch kein Theologe, sondern ein Praxiologe; seine Rede von Gott hat Hand und Fuß, ist geerdet und verhimmelt zugleich.

Die Sehnsucht nach dem Sesshaftwerden

„Mein Vater war ein umherirrender, heimatloser Aramäer.” So beschreibt die biblische Tradition die Geschichte des ersttestamentlichen Menschen.
Das Volk Israel begreift sich als wanderndes Volk auf dem Weg durch die Wüste auf der Suche nach Rast- und Kraftplätzen für die Menschen und ihre Herden. Auf ihrem Weg träumt es davon, der Hand der Ägypter entrissen, endlich in ein schönes, weites Land geführt zu werden, „in dem Milch und Honig fließen“. Ich kenne keine ältere Beschreibung der Sehnsucht nach dem Sesshaftwerden, nach Geborgenheit und Glück.
Der biblische Mensch begreift sich als ein Suchender, einer, der ständig unterwegs ist und prüft, wohin er gehört. Er wird nie mit Sicherheit wissen, ob er alles gefunden hat. So bleibt der Mensch dem Menschen in seiner Sehnsucht nach erfülltem Leben ein ewiger Weggefährte, ein Wanderer, stets unterwegs.

Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abraham war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog.“ (Genesis 12, 1-4)

Damit Hirn und Herz formbar bleiben

Aus den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung wissen wir, dass das menschliche Gehirn so wird, wie wir es benutzen, aber ganz besonders so, wie wir es mit Begeisterung benutzen. Es geht mehr als der Mensch im Augenblick für möglich hält. Er kann sein Gehirn auch noch auf eine ganz andere Weise nutzen. Er kann seine Lebenskarten noch einmal neu durchmischen und erkennen, was es noch Wunderbares zu entdecken gibt. Und das Schönste ist, dass das Hirn und damit auch das Herz des Menschen zeitlebens „plastisch“ bleibt, formbar ist, zeitlebens neue Erfahrungen machen kann.

Weil das für einen Menschen möglich ist, kann auch der fünfundsiebzig Jahre alte Abraham noch einmal ganz neue Wege gehen. Die Voraussetzung dafür liegt aber in der Bereitschaft, sich „ohne Reiseversicherung“ auf das Wagnis einzulassen. Das geht nur, wenn ein Mensch aus innerster Motivation handelt, wenn er in seinem Herzen angerührt wird. Um aber draufzukommen, was ihn derart begeistern könnte, muss er Zwiesprache mit sich selbst gehalten haben. Er muss gelernt haben und darin erfahren sein, in sich hineinzuhören und zu spüren, was als sein inneres Potenzial darauf wartet, entdeckt zu werden.

Gerade deshalb ist mir diese Stelle vom Aufbruch Abrahams im Buch Genesis so kostbar. Zu schnell gelesen könnte man meinen, Abraham handelt nur aus „Gehorsam“ Gott gegenüber. Ein bibelkundiger Mensch mag da an die Stelle in der Apostelgeschichte denken, wo Petrus sagt, man müsse „Gott mehr gehorchen als den Menschen“, als ginge es im Leben um eine unterwürfige „Dienstleistung“, die der Mensch zu erbringen hätte. Wenn die Bibelrund vierzig Mal von „Gehorsam“ redet, steht das immer im Zusammenhang mit dem „Hören“, das rund vierhundert Mal vorkommt und in erster Linie einen Liebesdienst an sich selbst meint, nämlich hineinzuhören in die Mitte der eigenen Existenz, Zwiesprache zu halten mit den innersten Regungen des eigenen Herzens und gerade so nicht nur mit sich selbst, sondern mit Gott und der Welt.

Das "innere Feuer"

Bereits hier tut sich ein ernstes Problem auf: Viele Menschen haben es nicht nur verlernt, Zwiesprache mit sich zu halten, sie möchten auch gar nicht wissen, was in ihrem Inneren vor sich geht. So sind nach und nach Motivation wie auch Begeisterung verloren gegangen, die Lebensfreude verschwunden und „das innere Feuer“ erloschen. Und weil ihnen nichts mehr unter die Haut geht, glauben sie sich den Luxus der Begeisterung nicht mehr leisten zu können. Stattdessen ziehen sie sich resigniert zurück oder aber sie treten die Flucht ins Dasein für andere Menschen an und werden zum „hilflosen Helfer“. Romano Guardini schreibt dazu in seinem Aufsatz „Vom Sinn der Gemeinschaft“: „Wir kennen alle das Bild jenes Menschen, der in das ‚Wir‘ hineinverloren ist – vielleicht sogar in das ‚Es‘.

Jenes Menschen, der immerfort bereit ist, sich vom Anderen sein Gewissen abnehmen zu lassen, und es anderen abzunehmen, und der so niemals in der Einsamkeit wirklicher Verantwortung steht: der immerfort sich mitteilen muss, und selbst vom Innen der Anderen naschen; der nicht mit sich fertig wird und, in der beständigen Flucht vor dem eigenen Versagen, sich in die Erziehung des Anderen wirft, oder in die Fürsorge für ihn … Und so weiter bis zu jenem, der es nur in der Geschäftigkeit und im Bereich aushalten kann; der weder die Einsamkeit noch die Stille erträgt, weil er da vor sich selbst zu stehen kommt.“