"Wenn du in der lebenswertesten Stadt lebst, aber deine Matratze nicht verlassen kannst, nicht mal hin und wieder." Das postete Christoph Ströck vor Kurzem auf der Plattform X, vormals Twitter, unter einem Ranking der lebenswertesten Städte der Welt. Der Wiener ist mittlerweile seit mehr als zehn Jahren an Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankt. Das Posting schloss er mit: "Es ist wirklich die lebenswerteste Stadt, und ich vermisse sie."

Sein Bruder Christoph sei aufgrund seiner schweren ME/CFS-Erkrankung in seiner Lebensführung massiv eingeschränkt, erklärt Michael Ströck, einer von drei Brüdern der bekannten Wiener Bäckerfamilie Ströck. "Seit mehreren Jahren ist Christoph an sein Zimmer gebunden, er kann nur wenige Stunden pro Tag über das Internet mit der Außenwelt kommunizieren. Er ist komplett vom Leben abgeschnitten."

ME/CFS: Eine Erkrankung mit enormer Spannweite

ME/CFS kann eine enorme Spannweite haben. Von schweren Verläufen, die Menschen über lange Zeit ans Bett bindet, reicht das Spektrum auch bis zu leichteren Erkrankungsformen. Das bildet sich auch in der Familie Ströck ab, neben Christoph leidet auch sein Bruder Philipp daran, wenn auch in einer etwas leichteren Ausprägung.

Die Symptome, die ME/CFS mit sich bringt, können massive körperliche Einschränkungen, Arbeitsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit umfassen. Auch Muskel- und Nervenschmerzen können vorkommen, ebenso extreme Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Das vordergründigste Symptom ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM), die zu einer schweren körperlichen Schwäche führt. Diese tritt vor allem dann auf, wenn Betroffene sich über ihre individuelle Belastungsgrenze hinaus anstrengen. Überschreitet man diese Grenze, kommt es zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustandes, der auch durch Ruhe nicht besser wird.

Eine Krankheit, die auch das Umfeld lähmt

Für Österreich gibt es keine genauen Zahlen der Betroffenen. Basierend auf internationalen Studien, geht man hierzulande von mindestens 26.000 Erkrankten aus. 25 Prozent davon können die eigenen vier Wände nicht verlassen und gelten als pflegebedürftig. "Diese Krankheit lähmt nicht nur die Betroffenen, sie lähmt die gesamte Familie, das Umfeld", sagt Ströck.

Die Krankheit hat als eine schwere Verlaufsform von Long Covid seit der Pandemie mehr Aufmerksamkeit erhalten, neu ist sie aber nicht. Bereits 1969 stufte die WHO diese als neurologische Erkrankung ein. Lange wurde ME/CFS nicht beachtet, von vielen als "psychosomatisch" abgekanzelt. "Es gibt keine einzige Spezialambulanz für ME/CFS, so wie es für andere schwere und komplexe Erkrankungen in Österreich üblich ist. Die Betroffenen und ihre Familien sind komplett auf sich allein gestellt", kritisiert Kevin Thonhofer, Obmann der Gesellschaft für ME/CFS. Es brauche hierzulande dringend interdisziplinäre, universitär angebundene Kompetenzzentren für ME/CFS. 

Diese Forderung unterstützt die Familie Ströck. Schon vor einigen Jahren wurde die We&Me-Stiftung eingerichtet, um ME/CFS-Forschung zu ermöglichen. Nun möchte man mit einer Anschubfinanzierung von einer Million Euro helfen, ein Kompetenzzentrum zu errichten. "Wir brauchen mehr Forschung, aber die Patienten können nicht warten, bis die Forschung abgeschlossen ist, sie brauchen jetzt Hilfe", sagt Marie-Therese Burka, operative Leiterin von We&Me. Noch gibt es keinen Standort für das Zentrum, Reaktionen auf den offenen Brief der Stiftung an Gesundheits- und Bildungsministerium sind spärlich und wenig konkret.

Unklar ist bislang auch, welcher Mechanismus hinter der Entstehung von ME/CFS steckt. Ein Auslöser scheint eine Infektionserkrankung zu sein, verschiedene Erreger können ME/CFS nach sich ziehen. Etwa das Epstein-Barr-Virus, Influenzaviren oder Sars-CoV-2. Ähnlich war es auch bei den Ströck-Brüdern. Bis zur Diagnose dauerte es bei Christoph Jahre. Bruder Michael kann sich kaum vorstellen, wie es seinen Brüdern geht. "Ich sehe nur, wie diese Menschen sich vor einer weiteren Verschlechterung zu schützen versuchen. Und das geht bis zum totalen Rückzug aus dem Leben."