Frau Bragagna, Sie arbeiten seit vielen Jahren als Sexualmedizinerin – was sind die häufigsten Beschwerden, mit denen Patienten zu Ihnen kommen?
Elia Bragagna: Das allerhäufigste Thema bei Frauen ist die Lustlosigkeit: Paare kommen, weil die Frau lustlos ist oder weil sie Schmerzen beim Sex hat. Bei den Männern sind die größten Themen vorzeitiger Samenerguss und Erektionsstörungen.

Wenn wir bei den Frauen bleiben: Was ist denn die Ursache für die Lustlosigkeit?
Rein körperlich betrachtet trifft Lustlosigkeit Frauen vor allem ab dem Wechsel. Wenn der Östrogenspiegel abfällt, werden die notwendigen Botenstoffe im Genitalbereich nicht mehr auseichend gebildet. Trotzdem haben Frauen das Gefühl, sie müssten noch genauso „funktionieren“ wie früher – wenn sie nun fünf Minuten länger brauchen, um in Stimmung zu kommen, haben sie schon Sorge, den Mann zu überfordern. Was auch ein großes Thema ist: die kleinen Kränkungen im Alltag zwischen Mann und Frau, die die Lust auf Intimität nehmen. Was dabei neurobiologisch passiert, ist, dass das Gehirn aufgrund dieser kleinen Verletzungen auf „Schutz“ umschaltet – der Körper ist nicht mehr offen für Annäherung. Solange es keine Entschuldigung gibt, bleibt der Körper in  Abwehrhaltung.

Elia Bragagna, Sexualmedizinerin
Elia Bragagna, Sexualmedizinerin © kk

Nun zu den Männern: Welche Probleme stehen hinter Erektionsstörung & Co.?
Auch hier gibt es körperliche Ursachen – und man muss sagen: Österreicher gehen schleißig mit ihrem Körper um. 15 Prozent sind fettleibig, mit Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck, die schon früh im Leben auftreten. All diese Erkrankungen zerstören die kleinen Blutgefäße im Penis. Viele Männer leiden auch unter Leistungsdruck: Sie müssen im Alltag und im Bett so vielen Erwartungen gerecht werden, tragen Verantwortung – das ist unmöglich zu schaffen.

Hier treffen also Geschlechterklischees wie das vom starken Mann noch zu?
Ja, es ist furchtbar. Aber in der jüngeren Generation findet ein Wandel statt: Junge Männer wollen nicht mehr um jeden Preis mit einer Frau ins Bett gehen, auch bei ihnen muss die Beziehungsebene stimmen. So weichen die Klischeebilder auf.

Hat sich die Patientenklientel über die Jahre verändert?
Die Veränderung ist, dass sich auch immer ältere Menschen trauen, Hilfe zu holen. Früher haben sich diese Menschen geschämt, doch jetzt kommen auch Patienten 75+. Früher sagten sich Ältere: Was will ich denn noch? Doch heute ist mein ältester Patient 94 Jahre alt. Es ist schön, zu sehen, dass diese Menschen ermutigt werden, zu sagen: Ich darf auch Bedürfnisse haben.

Was sind die größten Irrtümer oder Mythen, die das Sexleben stören?
Ein großes Thema ist das Gefühl, die Verantwortung für den Orgasmus des anderen zu haben. Frauen, die glauben, sie müssen den Mann bedienen, oder die Last des Mannes, die Frau zum Höhepunkt bringen zu müssen – wenn die Frau ihren Körper nicht kennt, kann er das nicht schaffen. Diese abgeschobene Verantwortung sollte nicht mehr angesagt sein.

Stimmt es, dass Youporn und Pornografie im Internet die Jugend massiv beeinflussen?
Durch Pornos entstehen natürlich Bilder: Sie fordern zum Beispiel frechere und riskantere Dinge. Da muss es ein Korrektiv geben, in der Familie und im Freundeskreis, das sagt: Das sind Märchen. Ein männlicher Pornostar hat ja selbst gesagt, dass er hofft, dass niemand das glaubt, was er darstellt. Wenn aber Pornos das Vorbild sind und Jugendliche glauben, man lernt daraus, hat man eine komplett falsche Vorstellung davon, was Sexualität ist. Eltern sind dahin gehend gefordert, dass Sex ein Thema sein darf.

Welche Sexualstörungen können ein Zeichen für eine ernsthafte Erkrankung sein?
Die Erektionsstörung des Mannes kann das erste Zeichen dafür sein, dass eine Gefäßerkrankung vorliegt. Auch wenn die Frau nicht mehr so erregbar ist wie früher, kann das ein Warnsignal sein, dass die Blutgefäße verändert sind.

Gibt es den einen Tipp für ein erfülltes Sexualleben?
Wir haben ein sehr sexualfeindliches Leben: Geben Sie sich als Paar Raum für Sinnlichkeit! Viele Paare opfern diese Zeit – man darf sich nicht erschlagen lassen von den wahnsinnigen Anforderungen des Alltags.