Wie wir unsere Kinder erziehen, ist keine reine Privatangelegenheit. Ob sie mit viel Vertrauen oder unter voller Kontrolle aufwachsen, macht einen nachhaltigen Unterschied. Denn Erziehung beeinflusst maßgeblich die politischen Positionen, die diese Kinder später als Staatsbürger und Wähler beziehen. So lässt sich die These des deutschen Kinderarztes und Wissenschaftlers Herbert Renz-Polster zusammenfassen, die er in seinem neuen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ vertritt. Das Buch liefert einen Erklärungsansatz dessen, was wir derzeit auf der weltweiten politischen Bühne erleben: ein massiver Rechtsruck – in vielen Ländern und auf vielen politischen Ebenen. Bekanntermaßen auch in Österreich.

Strenge macht streng. Die Landkarten der Kindheit und jene der politischen Haltungen gehen Hand in Hand, sagt Renz-Polster und nennt ein Beispiel: „Wenn man die Bundesstaaten der USA danach reiht, wie hoch die Zustimmungsrate zur Züchtigung von Kindern ist, dann stellt man fest: Die ersten 22 Staaten auf dieser Liste der Gewaltakzeptanz gingen bei der letzten Präsidentschaftswahl alle an Donald Trump.“ Die Erfahrung einer strengen Erziehung geht im Erwachsenenleben also mit strengen politischen Überzeugungen einher.

Überlegenheit und Identität

So viel zur Statistik. Offenbar fallen dabei die maßgeschneiderten politischen Aussagen auf fruchtbaren Boden. „Die Agenda der Rechtspopulisten dreht sich meistens um Stärke, Größe, Kontrolle, Überlegenheit und Identität. Kurioserweise sind das genau die Grundfragen jeder Kindheit: Bin ich schon groß und stark? Habe ich eine Stimme oder bestimmt jemand anderes über mich? Fühle ich mich sicher, zugehörig und anerkannt?“ Für den Buchautor ist Rechtspopulismus eine nach außen gewandte – und offenbar sehr verspätete – Suche nach jener Sicherheit, die eigentlich in der Kindheit schon verinnerlicht und festgemacht hätte werden sollen. „Die kindlichen Prägungen, die derzeit bei politischen Wahlen der westlichen Welt wirksam werden, sind bereits mehrere Jahrzehnte alt“, sagt Renz-Polster.

Der Grund, warum sie ausgerechnet jetzt so vehement an die Oberfläche drängen, sei ganz klar die Flüchtlingskrise: „Nationalistische, rechtspopulistische Gesinnung gab es seit Kriegsende ja immer, aber eher als stilles Potenzial. Dieses wurde nun durch die Flüchtlingskrise aktiviert.“ Der Experte sieht darin den entscheidenden Kristallisationspunkt in einer sich schon zuvor ausbreitenden Verunsicherung zwischen Globalisierung, Digitalisierung und dem Aufkündigen des Nachkriegskonsenses.

Vertrauen/Kontrolle. Welche Art von Kindheitsprägungen führen nun konkret zu welchen politischen Standpunkten? „Es gibt zwei Pole. Die Erziehung von Kindern kann entweder auf Vertrauen fußen oder auf Kontrolle“, sagt Renz-Polster. „Kinder, die in einem Umfeld von Anerkennung, Schutz und Zugehörigkeit aufwachsen, entwickeln eine eigene, innere Sicherheit. Sie erfahren die Welt als freundlichen Ort.“

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Anders sei es, wenn Kinder sich die meiste Zeit ausgeliefert und fremdbestimmt fühlen: Sie erfahren, dass ihre Bedürfnisse nicht anerkannt werden und verinnerlichen eine tiefe Verunsicherung. Zum Beispiel? „Wenn man etwa das Schlafverhalten von Kleinkindern so reglementiert, dass das Kind zum Schlafen eingesperrt wird. Dieses Kind vermisst das elterliche Wohlwollen, es erlebt die Welt als feindlich.“

Die Erziehungswende

In jüngerer Zeit vollzieht sich etwas, das Renz-Polster die Erziehungswende nennt: Kinder wachsen heutzutage im Allgemeinen mit sehr viel mehr Rücksicht auf ihre eigenen Bedürfnisse auf. Dieser Punkt lässt Renz-Polster optimistisch in die Zukunft blicken: „Die generell viel bessere Eltern-Kind-Beziehung finde ich toll, auch wenn man Familien viel stärker entlasten müsste, damit sie überhaupt fürsorglich sein können. Skeptisch bin ich allerdings, was die Betreuungseinrichtungen und Schulen betrifft. Da liefern wir gar nicht, denn dort geht es immer noch primär um Funktionieren und Gehorsam.“

Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Herbert Renz-Polster
Kinderarzt, Wissenschaftler und Buchautor Herbert Renz-Polster © KK



Ausnahme Österreich. Die Zahlen geben Renz-Polster Recht: Je jünger – und demnach weniger streng erzogen – die Wähler, umso weniger neigen sie zu rechtspopulistischen Positionen: „Trump hätte ohne die älteren US-Wähler keine Chance gehabt. Auch die AfD in Deutschland hat ein massives Nachwuchsproblem.“ Glänzende Ausnahme: Österreich! „Hier vertreten deutlich mehr Junge rechte Haltungen als anderswo“, sagt der Experte. Warum? „Die Datenlage der einzelnen Länder ist schwer vergleichbar, aber in Österreich gibt es in Umfragen immer noch sehr harte Aussagen zu Fragen der Kindererziehung. Offenbar hinkt das Land dem Liberalisierungsprozess in der Erziehung hinterher.“

Plädoyer. „Kindheit wagen!“, lautet Renz-Polsters abschließendes Plädoyer. „Was jetzt zu tun ist, hat unmittelbar mit uns selbst zu tun. Wie wir leben. Wie wir Beziehungen gestalten. Vor allem aber: Wie wir diejenigen von klein auf behandeln, die von uns abhängig sind: unsere Kinder.“ Denn Kinder, die ihre Kindheit innerlich unverletzt, mit Selbstvertrauen, wachen Augen, Einfühlungsvermögen und Mut verlassen, seien widerstandsfähig, „auch und gerade gegenüber den Verlockungen des Rechtspopulismus“.