Für viele ist die Wahl der Volksschule eine Weichenstellung für das Kind. Ist sie das?
NiKOLAUS GLATTAUER: Die Wahl der Volksschule ist eher Perpetuierung als Weichenstellung. Das Kind geht ja in der Regel dort zur Schule, wo es wohnt. In den Städten hängt der Wohnort aber sehr stark vom sozialen Status ab, der wird mit der Einschreibung in die Volksschule dann auch für das Kind festgeschrieben. Ob ein Kind in der Montessori- oder Bilingual-Volksschule landet, hat also etwas damit zu tun, wo seine Eltern wohnen – und nicht, ob das Kind tatsächlich ein bilinguales Elternhaus hat oder auf Montessori-Pädagogik besonders gut anspricht. So etwas nenne ich soziale Perpetuierung.

Nikolaus Glattauer
Nikolaus Glattauer © Gery Wolf


Für wen kommen alternative Schulen infrage? Für wen zweisprachige Schulen?
Zweisprachige Schulen sind eigentlich für die Kinder aus zweisprachigen oder gar nicht deutschsprachigen Elternhäusern gedacht. Zum Beispiel Eltern, die berufsbedingt nur ein paar Jahre in Österreich leben, etwa Diplomaten oder Angestellte internationaler Firmen.
Falls man die Qual der Wahl hat, wie entscheidet man?
Ich habe die Volksschulen für meine zwei Kinder primär nach Bequemlichkeit ausgesucht. Kurzer Schulweg, einfache Anbindung. Der Rest ist Schicksal. Und gut war’s. Meine jetzt 14-jährige Tochter ist umständehalber in eine christliche Privatvolksschule gegangen, weil die erstens die nächste war und vor allem die einzige im Bezirk, die mein damals noch nicht schulpflichtiges Kind spontan unterbringen konnte. Und passiert sind ihr eine super Lehrerin und noch bessere Nachmittagsbetreuerinnen. Mein Sohn, er wird jetzt im Dezember acht, geht in eine öffentliche Volksschule in einem sogenannten „Türkenviertel“. Und wieder hat er eine super Lehrerin und wunderbare Nachmittagsbetreuerinnen. Es gibt nicht „die gute“ und „die nicht gute“ Schule. Es gibt nur passende und weniger gut passende Kind-Lehrerinnen-Kombinationen. Das kannst du vorher nicht erkennen. Also ist ganz viel Schicksal dabei. Und das ist gut so. Ein Kind muss lernen, auch mit jenen zurechtzukommen, mit denen es auf den ersten Blick vielleicht nicht so gut zusammenpasst. Es lernt dabei, sich nach außen zu orientieren und sich selber kennen. Eltern wird heute eingeredet, dass sie mit der Wahl der Volksschule über das spätere Leben ihres Kindes entscheiden. Das ist Blödsinn. Letztlich geht es in jeder Schule, wie übrigens auch im Elternhaus, um Beziehungen. Beziehungsfähigkeit kannst du in jeder Schule lernen, egal, welche pädagogischen Konzepte es dort gibt oder ob benotet wird oder nicht. Ein beziehungsfähiges Kind wird sein späteres Leben in der Regel meistern, ein beziehungsunfähiges nur dann, wenn es dieses Manko später durch Ersatzstrategien kompensieren kann. Schwierig.
(Wann) Ist Hausunterricht eine Alternative?
Hier besteht die Gefahr, dass das Kind von der Umgebung abgekoppelt wird. Aber das muss so nicht sein. Ich habe einmal als Lehrer einen damals 12-jährigen Schüler als Quereinsteiger bekommen. Der Bub war bis dahin, also sechs Jahre lang, nur häuslich erzogen worden, noch dazu von einer sehr schwierigen, psychisch instabilen und auffälligen Mutter. Nicht nur, dass der Bub später die HTL-Matura mit Auszeichnung geschafft hat. Er war in meiner Klasse innerhalb kürzester Zeit das Alpha-Tier. Aus meiner Sicht ist häuslicher Unterricht also immer eine Alternative.
Ist es zulässig, eine Schule nach dem Hort auszuwählen?
Natürlich gibt es Fälle, wo praktische Überlegungen in die Schulwahl hineinspielen. Das ist neben dem Schulweg etwa die Nachmittagsbetreuung. Noch ist die ja das große Asset der Privatschulen, die ja meistens nicht deswegen bevorzugt werden, weil sie bessere Schulen wären, sondern weil sie ganztägig und meistens auch wie Gesamtschulen geführt werden. Das heißt, ein Kind, das in die private Volksschule X geht, flutscht dann meistens auch problemlos ins weiterführende Gymnasium. Und es wird rundum betreut. Die Orientierung der öffentlichen Schulen in diese Richtung – jetzt auch durch vermehrtes Ganztagsangebot und das Clusterkonzept von Bildungsministerin Sonja Hammerschmid – ist absolut richtig.
Warum sind viele Eltern bei der Schulwahl so verunsichert?
Wird mein Kind funktionieren? Wird es schaffen, was man von ihm erwartet? Habe ich es gut vorbereitet? Ich finde, die vernünftigste Frage wäre eine andere: Wie schaffen wir es gemeinsam, also Eltern und Lehrerinnen, dass ein Kind möglichst lange möglichst viel Spaß an der Schule hat? Denn nur durch Spaß entsteht Neugierde. Und nur durch Neugierde kommt das, was man Leistung nennt.
Muss man sein Kind auf die Schule „vorbereiten“?
Jedes Kind ist „vorbereitet“, wenn es in die Schule kommt. Denn es hat sechs Jahre Leben hinter sich gebracht. Ein Kind muss nicht lesen, schreiben oder rechnen können, bevor es überhaupt in die Schule kommt. Denn, glauben Sie mir, wenn es diese verlässt, kann es lesen, schreiben und rechnen. Das eine Kind früher, das andere ein bisschen später, das eine liest vielleicht besser, als es rechnet, das andere rechnet besser, als es schreibt. Das ist normal und nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob das Kind gelernt hat, dass es befriedigend ist, sich etwas zu erarbeiten.
Wann macht Schule Angst?
Die Angst zu versagen ist ein großer Hemmschuh im Lernprozess eines Menschen. Nicht nur beim Kind, auch bei Erwachsenen. In der Schule kann das Kind mithilfe seiner Lehrerinnen lernen, dass es „Versagen“ eigentlich nicht gibt. Es gibt das Hinfallen – und Wiederaufstehen. Man kann scheitern, aber auch den Mut aufbringen, es noch einmal zu versuchen. Und es gibt die Entscheidungsfreiheit, manchmal zu lassen, was nicht gelingen mag. Einer meiner Lieblingssätze, er wird dem Volk der Dakota zugeschrieben, lautet: Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab! Wichtig ist, dass Lehrerinnen, aber auch Eltern auf Fehlern nicht „herumreiten“. Dass man ein Kind zwar fordert und ermutigt, an seine Grenzen zu gehen, ihm erlaubt, auch darüber hinaus zu gehen – ihm aber auch erlaubt, stehen zu bleiben, sich umzudrehen und vielleicht zurückzugehen. Ein Kind, dem man die Wurzeln gibt, damit es fest und sicher steht, aber auch die Flügel, um zu fliegen, hat keine Angst. Durch Druck und Zwang lässt sich Schulangst nicht bekämpfen, lässt man Wurzeln und Flügel wachsen, schon.
Was macht der Schuleintritt eines Kindes mit der Familie?
Manche Eltern können ihr Kind mit Schuleintritt nicht loslassen. Das hat etwas mit Grundvertrauen zu tun. Ich muss als Mutter oder Vater nicht wissen, was meinem Kind am Vormittag alles erzählt oder beigebracht worden ist. Mein Kind sollte es wissen. Schule ist Sache der Schule. Aus. Eltern sind zuallererst fürs Gernhaben zuständig. Aber manchmal ist es umgekehrt: Schulen, die Mütter – meist sind es ja die Mütter und weniger die Väter – in die Rolle von Co-Lehrerinnen drängen, verkennen ihren gesellschaftlichen Auftrag. Der besteht nämlich nicht darin, dass Eltern wieder zur Schule gehen und dann stöhnen, weil sie nächste Woche Referat oder einen Rechentest haben. „Wir haben Biologie-Referat“ aus dem Mund einer Mutter – das muss der Vergangenheit angehören.