Eltern bekommen nonstop Zurufe von allen Seiten. Die einen singen ein Loblied auf die Disziplin, die anderen auf die Gelassenheit. Wird Erziehung zu einer wissenschaftlichen Disziplin, durch die sich Eltern zunächst einmal durchbüffeln müssen?

MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Man kann es schärfer sagen. Erziehung ist zu einem Verwirrungsschauplatz geworden, der mit massiven Konsuminteressen verknüpft ist. Aufgrund dieser Verwirrung lassen sich viele Produkte verkaufen und sie hält auch eine ganze Ratgeberliteratur am Laufen. Es stellt sich also die Frage, wie es gelungen ist, den Schauplatz Familie, die Sozialisierung der nächsten Generation, wie einen Kommerzialisierungsumschlagplatz zu designen. Früher war das kein Thema, früher hat man einfach gewusst, wie man sein Kind erzieht.

Ein Wissen, das aber nicht immer das Beste für Kinder war.

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Nein, aber gefühlt war es richtig für jeden. Man hätte hier niemandem etwas verkaufen können, weil es keine Verwirrung gegeben hat. Es war nicht immer unbedingt gut, aber es war klar.

Dieses Video könnte Sie auch interessieren

Im Gegensatz zu früher sind Eltern heute oft verunsichert, suchen nach Orientierung. Der Erziehungsexperte Jesper Juul meint, es sei durchaus auch gut, dass sich Eltern heute erlauben, unsicher zu sein, sich selbst zu hinterfragen. Wie viel Unsicherheit verträgt ein Kind?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Reflexion, sich in seinem Tun und Handeln jederzeit infrage zu stellen, ist gut. Unsichere Eltern sind aber etwas anderes. Viele sind tatsächlich unsicher und delegieren ihre Unsicherheit, die Entscheidung an das Kind. Sie fragen: „Wie willst du es denn, mein Kind? Soll das der Papa oder die Mama machen? Entscheide bitte du, mein Kind.“ Das Ganze läuft unter dem Deckmantel der großen Freiheit. Eltern meinen, sie müssten Kindern möglichst viel Entscheidungsfreiheit möglichst früh übertragen. Das klingt auch alles sehr charmant. Wer will heute schon noch in einem repressiven System leben, wir wollen ja den selbstbewussten, sich selbst spürenden Menschen erziehen und nicht autoritär wie unsere Eltern sein.

Sie glauben, dass zu große Entscheidungsfreiheit Kinder massiv überfordert und sie damit nicht stärkt, sondern eher schwächt?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Zunächst sind scheinbar alle aus dem Schneider. Die Eltern brauchen keine Angst haben, dass sie einen Fehler machen, weil sie nichts entscheiden. Sie delegieren ihre Unsicherheit an das Kind und liegen im Trend damit, dass sie ihre Kinder möglichst frei erziehen. Und sie glauben auch noch, dass sie das Selbstbewusstsein ihres Kindes damit fördern. In Wirklichkeit ist das aber eine Erziehungslüge, die sich später offenbaren wird. Kinder müssen heute viel zu früh Bereiche bespielen, für die sie noch nicht kompetent genug sind. Das ist nicht selbstwertfördernd, sondern überfordernd. Diese Kinder betteln oft um Grenzen, weil sie keine altersadäquaten Grenzen gesetzt bekommen.

Ein Geheimnis ist also zu wissen, wann sind welche Grenzen, wann wie viel Abstand, wann wie viel Fürsorge gefragt?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Es ist im Prinzip einfach. Mütter und Väter müssen ihre Rollen einnehmen. Ich habe als Mutter und als Vater einen Erfahrungsvorsprung von 30, 40 Jahren. Das Frontalhirn, das für vorausschauendes Planen, Risikoabschätzung zuständig ist, funktioniert bei einem Erwachsenen, aber noch nicht bei einem Kind. Daraus rekrutiert sich Führungsverantwortung, nicht Führungsanspruch. Letzteres wäre die autoritäre Seite.

Was sagen Sie Eltern, die ihr dreijähriges Kind fragen, was es abends essen möchte?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Dass sie das nicht tun sollten.

Sie kritisieren die zu große Entscheidungsfreiheit, die heute Kindern übertragen wird. Steht dahinter die Tendenz, Kindheit als eigenständige Entwicklungsphase immer mehr abzuschaffen?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ja, es wird oft nicht mehr verstanden, dass man Kindern je nach Alter einen Rahmen vorgeben muss, den das Kind bespielen kann. Es wird sofort ein großes Feld aufgemacht, auf dem das Kind alles ausprobieren soll. Zu dieser oft grenzenlosen Freiheit kommt noch der Glaube an die grenzenlose Talentförderung. Das sind heute die zwei Grundparadigmen guter Elternschaft.

Freiheit und Förderung?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ja, das Kind soll entscheiden, in welchen Kindergarten es geht, wohin der Urlaub geht, selbst wenn es die Landkarte nicht kennt. Und jedes Kind ist im Prinzip ein Einstein, das Eltern kompetent fördern müssen.

Sprechen Sie da nicht vom geringen Prozentsatz jener Eltern, die alles auf das Projekt Kind fokussieren?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Da sprechen wir nicht von wenigen, sondern von vielen Eltern. Sportklub, Ballett, Klavierunterricht. Das ist eine Geschichte, die breit aufgerollt ist. Projekteltern perfektionieren das nur.

Was ist Ihrer Erfahrung nach das Wesentliche, damit sich Kinder emotional gut entwickeln?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Da kann man Kindern nur eines wünschen: Landet bei erwachsenen Eltern, die sagen: Bis jetzt war ich Frau oder Mann, jetzt bin ich Mutter, Vater. Basis ist das Bewusstsein meiner Führungsverantwortlichkeit.

Stichwort Führung: Stimmen Sie zu, dass es tödlich für die Eltern-Kind-Beziehung ist, wenn Eltern beliebt sein wollen bei ihrem Kind?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Absolut. Ich muss meine Autorität liebevoll leben. Damit gebe ich dem Kind Sicherheit. Wenn ich aber auf die Ebene „Ich bin dein bester Freund“ wechsle, ist das für das Kind tödlich. Es wird meine Autorität auch nicht mehr akzeptieren, wenn es um Vitales geht. Aber viele sagen: Ich bin lieber mit meinem Kind befreundet, soll er halt länger fernsehen, bevor er wieder böse ist auf mich.

Sie fordern Eltern auf, mehr Energie aufzubringen, um der Unlust oder Verweigerung ihrer Kinder mehr Widerstand entgegenzubringen? Fehlt Eltern diese Energie?

LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Eltern sind heute ganz anderen Bedingungen ausgesetzt als früher. Die Eintrittskarten für fehlende Energie sind Stress, Müdigkeit. Viele sagen: Ich weiche dem Konflikt aus. Es ist aber wesentlich, Widerstand entgegenzubringen, zu transportieren, warum hier die Grenze gesetzt wird, warum der Sohn um 23 Uhr zu Hause sein muss, und man muss dabei bleiben. Der andere Weg ist oft bequemer - aber nur scheinbar.