Mit meinen Eltern habe ich keinen Kontakt mehr. Schon seit Jahren nicht.“ Ein Satz, der von Betroffenen selten so offen ausgesprochen wird. Zu groß ist das gesellschaftliche Tabu einer totalen Funkstille zwischen engen Familienmitgliedern. Zugleich ist das Phänomen beileibe keine Seltenheit. Kinder, die mit einem oder beiden Elternteilen brechen, Eltern, die sich von ihren Kindern abwenden, Geschwister, die nicht mehr miteinander reden. Es gibt etliche Varianten des Kontaktabbruchs innerhalb von Familien. Und oft werden sie ausgelöst durch scheinbare Banalitäten.
Claudia Haarmann, eine deutsche Psychotherapeutin, die sich dem Thema in einem eigenen Buch widmete, hat Hunderte solcher Fälle begleitet. Sie sagt: „Meist gibt es den einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Eine einzelne Bemerkung oder andere Kleinigkeiten eines Familienmitgliedes sorgen für das endgültige ,Jetzt reicht’s!‘.“ Ein Grund zum Bruch ist gefunden, die Ursache liegt natürlich viel tiefer. Und sie tut schon seit langer Zeit weh. Haarmann nahm besonders jene Kontaktabbrüche unter die Lupe, bei der sich erwachsene Kinder von ihren Eltern trennen. „Diese Menschen tragen lange davor gewisse Gefühle mit sich herum. Etwa: Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich wirklich bin; sie verstehen mich einfach nicht; ich höre immer nur Forderungen; lieben die mich überhaupt?“
Der einzige Ausweg
Wenn das Klima innerhalb der Familie offen genug wäre, würden diese Themen an- und ausgesprochen. In Familiensystemen aber, in denen es keinerlei gelebte Kommunikation gibt, die ein Ansprechen möglich machen würde, ist der totale Bruch oft der einzige Ausweg aus der Enge. „Da spricht man lieber über den Nachbarn oder Tante Erna, bevor man sich den eigentlichen Themen stellt. Und irgendwann sagt das Kind: ,Ich kann nicht mehr.‘“
Kann man diese Situation rechtzeitig erkennen als Elternteil? Gibt’s Anzeichen? Signale? „Ja, die gibt es“, bestätigt die Autorin und nennt als Beispiel, dass die Tochter immer wieder mal sagt: „Du hörst mir einfach nicht zu!“ Und die Mutter kontert: „Natürlich höre ich dir zu. Was hast du denn immer?“ Eltern seien oft blind für solche Situationen, schließlich haben sie ihr Leben lang das Beste für ihr Kind gegeben. Dennoch sind sie gut beraten, die Beziehung zum Kind und eventuelle Änderungen zu reflektieren. Ist zu spüren, dass das Kind sich entfernt? Dass es abblockt? Dass da etwas „im Raum“ steht?
Wenn das Kind dann tatsächlich den Stecker zieht, ist das der viel zitierte Worst Case. Und zwar für beide Seiten. Haarmann: „Die Eltern sind bis ins Mark erschüttert. Es ist dramatisch, wenn das eigene Kind für sie unerreichbar ist. Für die Kinder ist es ebenso schlimm. Viele brauchen oft eine Therapie, um mit der Situation fertigzuwerden. Zugleich sagen sie aber: Ich kann nicht anders!“ Denn ein Kontaktabbruch sei niemals eine leichtfüßige Entscheidung.
Familienklima ist Elternsache
Die gute Nachricht: Es gibt Wege zurück. Auch nach sehr langer Zeit. Die ersten Schritte aufeinander zu sollten nach Haarmanns Erfahrung von den Eltern oder dem Elternteil gesetzt werden. Warum von ihnen? „Die Eltern waren von Beginn an für die Familienatmosphäre verantwortlich. Sie müssen sich fragen, ob sie das Kind anerkannt und ihre Zuneigung genug ausgedrückt haben. Das Familienklima ist immer Elternsache. Und bei einem Kontaktabbruch müssen die Eltern sich dann bemühen, ein anderes Klima zu schaffen.“
Der erste Schritt aufeinander zu, wie sieht der aus? Einfach mal anklopfen? „Es geht in erster Linie darum, dem Kind aus der Ferne zu signalisieren: Wenn du mich brauchst, bin ich da.“ Täglich dort auf der Matte zu stehen, passt also sicher nicht. Besser sind etwa Geburtstagskarten, die dieses Da-Sein, dieses immer noch vorhandene Gefühl der Verbundenheit ausdrücken. „Das Kind braucht oft Jahre, wieder zu sich zu finden und Gelassenheit zu entwickeln. Aber meiner Erfahrung nach finden die meisten Betroffenen eines Tages wieder zueinander“, erzählt Haarmann.
Vereinzelt gebe es Fälle, in denen der entstandene Graben nicht mehr überwunden werde. „Das ist leider Sturheit auf beiden Seiten. Man kann nur etwas bewirken, wenn sich mindestens einer bewegt.“ Damit müssten die betroffenen Familienmitglieder dann eben leben. „Es bleibt jedoch immer eine große psychische Belastung“, so Haarmann.
In Deutschland und der Schweiz ist man im Umgang mit diesem Tabuthema schon weiter: Dort gibt es viele Selbsthilfegruppen für verlassene Eltern oder Kinder. In Österreich wird meist darüber geschwiegen. Nach bewährtem Rezept, sozusagen.
Johanna Wohlfahrt