Quarantäne Tag X und es fühlt sich wie der millionste Tag an. Meine Tochter Lilia ist nun schon zehn Wochen alt. Inzwischen kann sie Gegenstände mit ihren Äuglein fixieren und verfolgen, Gesichter erkennen, herzhaft lachen und süße Laute von sich geben. Sie ist mit Mamas und Papas Stimme vertraut – und mit der aus den Nachrichten. Sie gehört wohl zu den klassischen "Digital-Babys“, die ihre Umwelt über TV, Radio und Internet erleben – also von drinnen. Ihre Sinne sind auf das beschränkt, was in den eigenen vier Wänden zur Verfügung steht. Riechen, Sehen, Hören und Greifen kann sie nur uns und unsere Hunde, die mindestens genauso unter der Isolation leiden.
Mich als Mutter stört es nicht, zu Hause bleiben zu müssen. Vielmehr sehe ich die Vorteile darin, dass unser Kind so mit keiner Menschenseele und damit keinen potenziellen Bazillenschleudern in Berührung kommt. Abgesehen vom Coronavirus gibt es ja auch andere Krankheiten, die sich ein Säugling nicht unbedingt einhandeln sollte. Durch die Quarantäne wurde mir das Aussprechen des oft als unhöflich und übertrieben empfundenen Satzes "Bitte desinfiziert euch die Hände, bevor ihr das Baby berührt“, erspart. Dennoch plagt mich Wehmut. All die Kleider, die ich für sie gekauft habe, "führe“ ich nun zu Hause aus. Ich ziehe sie ihr an und mache zumindest ein Foto von ihr in den süßen Outfits, um zumindest eine Erinnerung daran zu produzieren.
Lange sehnsüchtig erwartet
Ich bin zutiefst traurig darüber, dass ich meine Lilly noch niemandem zeigen konnte. Sie ist mein ganzer Stolz, ein Sonnenkind, ein von innen heraus herzhaft strahlendes Mädchen. Drei Jahre lang haben wir sie erhofft; neun Monate der Schwangerschaft haben wir sehnsüchtig auf sie gewartet. Ich habe den Tag herbeigesehnt, an dem meine Familie sie als neuen Erdenbürger begrüßen wird. Ganz offiziell. Ganz feierlich. Ganz liebevoll.
(K)ein Kuss auf die Stirn, (k)ein Kniff in die Wange, (k)ein Betätscheln der süßen kleinen Füßchen, (k)ein erfreutes Lachen der frischgebackenen Großeltern, nichts. Lilly ist immer noch eine große Unbekannte im Leben meiner Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten. Sie kennen ihr Gesicht nur durch das Smartphone. Wie traurig.
Sehnsucht nach den Lieben
Meine Tochter weiß nicht, wie sich ihre Verwandten anhören, anfühlen, riechen. Sie kennt das Gefühl nicht, von Oma Doris mit liebevollen Bussis beschenkt zu werden. Sie weiß nicht, wie geborgen sie sich fühlen könnte, von Opa Peter durch die Welt getragen zu werden. Sie weiß auch nicht, wie es wäre, der ruhigen Stimme ihres Onkels Volker Aufmerksamkeit zu schenken, wenn dieser Geschichten und Weisheiten aus vergangenen Tagen erzählt. Sie kennt den Duft der schmackhaften Küche ihrer Urgroßmutter nicht. Auf den Klang des tiefen Gesangs mit instrumentaler Begleitung ihres Urgroßvaters, wenn dieser das Schlaflied "Aber heitschi bumbeitschi“ zum Besten gibt, musste sie bisher ebenso verzichten. Und sogar das amüsierte Gelächter der Familie über Witze, die ihr Onkel Gernot gerne macht, konnte sie bis heute nicht hören.
Sie durfte es nicht erfahren, dass ihre Geburt im Kreise der Liebsten gefeiert wurde. Für mich als Mutter ist das schwer zu ertragen. Die Geburt eines Kindes wird nur einmal erlebt – und deren Geschichte nur einmal erzählt. Diese Wolke aus Glücksgefühlen und Unbeschwertheit ist nur unmittelbar danach präsent – und ich wollte sie mit allen teilen. Ich wollte davon berichten, zu einer Zeit, wo die Bilder noch in meinem Kopf präsent und erlebbar waren. Nur in dieser Phase konnte ich sie so erzählen, dass die Welle der Überwältigung auf die Zuhörer und Zuhörerinnen übergeschwappt wäre. Selbstverständlich weiß ich auch heute noch jedes Detail – allerdings ist der "Zauber der Zeit“ auf diesem Weg verloren gegangen.
Jeden Tag aufs Neue lernt unsere Tochter Lilly dazu, wächst schnell, verändert sich. Sie ist heute nicht mehr das Baby, das es vor zehn Wochen noch war. All die vergangenen Tage kommen nie mehr zurück. Nie mehr im ganzen Leben. Sie können auch nicht erinnert werden, denn sie waren in den Köpfen meiner Familie nie da gewesen.
Anne-Sophie Ronge