Meine sehr verehrten Damen und Herren,


das Leben nimmt sich die Freiheit, alles was ist zu verändern, und darum stehe ich heute hier. Wäre es nicht so, dann würde wie in den vergangenen Jahren ein unvergleichlicher Künstler mit sengendem Blick von hier herunter schauen und uns erklären, was Beethoven wirklich mit seinen Sinfonien gemeint habe. Doch so wird es nicht mehr sein. Nikolaus Harnoncourt ist uns wie so oft zuvor voraus gegangen. Und wir sind hier.


Wir sind hier, nicht zuletzt, weil wir alle gemeinsam eine Wette auf das Leben abgeschlossen haben. Auch Nikolaus Harnoncourt hat diese Wette auf das Leben, genauer: auf das Über-Leben angenommen. Er hatte noch einmal alles auf eine Karte gesetzt. Beethovens neun Sinfonien wollte er hier in diesem Saal aufführen, alle gemeinsam in einer styriarte, so wie es schon einmal war, nur dieses Mal mit seinem eigenen Orchester, dem Concentus Musicus Wien. Erstmals den ganzen Beethoven auf Originalinstrumenten, das ist ein unvergleichliches Mammutprojekt für alle Beteiligten. Und wir alle haben die Wette angenommen, wir als Veranstalter, indem wir kühn programmierten, man könnte auch sagen, jenseits aller Vernunft oder an ein Credo von Nikolaus Harnoncourt angelehnt, das da lautet: „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“. Auch sie als Publikum haben die Wette angenommen, indem sie Karten kauften. Nun, das Ergebnis ist anders, als wir alle es geplant hatten. Aber es ist auch ein Wechsel auf die Zukunft. Vielleicht bilden sich dort die schönsten Möglichkeiten ja gerade heraus? Weil aber die Zukunft, was immer sie bringen wird, haltlos bliebe ohne Kenntnis der Vergangenheit – was ja ganz allgemein der wichtigste Grund der Beschäftigung mit der Kunst vergangener Tage ist – erlauben Sie mir bitte, dass ich jetzt noch einmal an den Weg hierher mit dem Mann erinnere, den wir alle sehr, sehr vermissen.


Eine der folgenreichsten Ideen der steirischen Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte war es, Nikolaus Harnoncourt davon zu überzeugen, dass er ab dem Sommer 1985 Jahr für Jahr ein paar produktive Wochen in Graz verbringen möchte. Dafür hat man ihm, dem Weltstar der Alten Musik, damals 56 Jahre alt, die styriarte gegründet. Sicher wusste man im Landhaus und in der Burg nicht genau, worauf man sich da einlässt, denn die Neuerwerbung war widerständig aus Prinzip. 


Die styriarte trat also 1985 in die Welt als ein Festival Alter Musik, mit Programmen um Bach und ein Jahr später Monteverdi (Alte Musik, das meint in der Welt der Klassik Musik, die mehr als 250 Jahre alt ist). Aber hatte Harnoncourt diese Phase in diesen Jahren nicht schon lange hinter sich, hatte er nicht schon zu Beginn der 80er Jahre in der Züricher Oper die Attacke auf das Herz des klassischen Musikbetriebs eingeleitet und seinen Zuhörern übersetzt, was Mozart wirklich gesagt hat?
Jetzt ist es ja so, dass wir Musik hören wollen und Musik produzieren und reproduzieren, weil sie eine Quelle des Glücks ist, eine Quelle für die Recreation des Gemüths, wie es Johann Sebastian Bach formuliert hat. Aber wir müssen dabei schon bei der Wahrheit bleiben. Künstler erzählen nicht üblicherweise von rosaroten Luftballons, sie erzählen vom Leben, und ein Teil des Lebens ist der Tod, ist der Schmerz, ist dunkelgrau. Der kommerzielle Musikbetrieb neigt dazu, auch den Tod rosarot einzufärben – wegen der Verkaufszahlen. Ein paar Beispiele aus Harnoncourts Welt, sie alle standen in den letzten styriarte-Jahren am Programm: Mozarts g-Moll-Sinfonie, Bizets „Carmen“, Gershwins „Porgy and Bess“, alle reden sie vom Tod, und alle dienen sie der guten Unterhaltung. Damit muss man erst einmal ins Reine kommen.


Wir haben in der styriarte, seit es sie gibt, feurig daran gearbeitet, Nikolaus Harnoncourt ein ideales Podium für seine Erkundungen im Zauberreich der Musik zu schaffen, wir haben auch ein wunderbares Publikum dafür gefunden, und in dieser zauberischen Atmosphäre haben wir uns über 30 Jahre lang höher und höher, weiter und weiter geschaukelt. Harnoncourt hat unterdessen Mozarts Welt durchschritten, er hat den Schlüssel zum Zauberreich der Romantik gesucht, er hat die frivole Welt Jacques Offenbachs aufgemacht, am Ende den unerhörten Originalklang von Gershwins „Porgy und Bess“ freigelegt, und wir alle waren glücklich. Hätte man mich in diesen Jahren nach meinem (beruflichen) Lebenszweck gefragt, ich hätte bestimmt gesagt: Ich baue Nikolaus Harnoncourt das Podium, auf dem er seine unvergleichlichen Interpretationen entfalten kann. Nichts soll ihm fehlen, auch wenn das Projekt immer am Rande des ökonomischen Abgrunds steht. Aber am Abgrund ist es eh am schönsten, auch das haben wir auch von Harnoncourt gelernt. So hätten wir also auch das Erfolgsgeheimnis der styriarte festgestellt: Ein Messias der Töne, ein Bühnenbauer aus Leidenschaft und ein neugierigen Publikum treffen einander, um die Gipfel des Glücks auszuloten.


Dabei haben wir auch einiges ausgeblendet und auch unerledigt gelassen, was Harnoncourt selbst als bedenkliches Szenario an die Wand gemalt hat: Der klassische Musikbetrieb mit seinen überkommenen Formaten hat sich ziemlich überlebt. Wir müssen ihn wirklich neu erfinden. Und wir sind noch immer weit davon entfernt, dass die Botschaften der Kunst, ohne die sich Harnoncourt ein humanes Leben gar nicht vorstellen konnte, allen Schichten zugänglich und schon gar nicht verständlich wären.


Nikolaus Harnoncourt ist weit mehr als der Dirigent, der Musikdenker, den die Musikwelt erst aufgewühlt angefeindet und dann noch inbrünstiger in den Himmel gehoben hat. Er war immer auch ein Methodiker, dessen Arbeits- und Denkweisen ganz unabhängig von seiner Person umsetzbar sind, ja umgesetzt werden müssen. Auch das hat er uns beigebracht. Nikolaus Harnoncourt hat Interpretation immer als zeitgebunden begriffen. Er hat sich gerne vorgestellt, wie man in ein paar Jahren oder Jahrzehnten über seine Erkenntnisse und Auffassungen lachen würde. Denn niemand kann aus der (kulturellen, gesellschaftlichen) Haut, in der er gerade steckt, und wir können auch nicht woanders sein, als dort, wo wir grade stehen. Weil es die Kunst aber wert ist, müssen wir sie immer wieder neu und aktuell übersetzen. Und Harnoncourt hat uns die Werkzeuge dafür an die Hand gegeben: den unbedingten Respekt vor dem Willen des schaffenden Künstlers; das Prinzip, dass der, der etwas zu sagen hat, auch wirklich verstanden werden sollte; und die Überzeugung, dass es wirklich jedem einzelnen und der Gesellschaft im Ganzen gut täte, sich mit den Botschaften der Kunst vertraut zu machen.


Und da stehen wir nun mit dem Handwerkzeug des Meisters, und sehen, dass das, was er uns hinterlassen hat, eine Werkstatt ist. Wir haben die Pläne, wir haben das Know how, wir haben den Auftrag. Er selbst ist nicht mehr da, seine einzigartigen Lesarten sind unwiederbringlich Geschichte. Aber es ist klar, dass wir weiter arbeiten müssen in dieser Werkstatt, wieder neue Wege suchen. Nichts anderes hätte er erwartet, nichts anderes hätte er selbst getan. Wir werden freilich unseren Eifer verdoppeln, unsere Kraft potenzieren müssen, jetzt, wo er fort ist. Aber das ist auch der Lauf der Welt.
Nikolaus Harnoncourt ist vorausgegangen. Wir folgen nach. Und ich hoffe, Sie alle gehen mit uns!