Das Sujet des 57. „steirischen herbst“

Heimat“ oder „Vaterland“? Dass das lateinische „patria“ in beides übersetzbar ist, gibt der „herbst“-Intendantin Ekaterina Degot ein Bezugsraster, in dem sich ein gewaltiges Thema platzieren lässt. Zwischen der Strenge des Vaterlands und der Weichheit der Heimat entfaltet sich der „Horror patriae“, der Schrecken eines Vaterlands, die Unheimlichkeit der Heimat. Ein Nachdenken über Demokratie, Leitkultur, Heimatgefühl, Identität und Diskurse, programmiert natürlich auch anlässlich des Superwahljahres 2024. „Wie wichtig ist es, wo man geboren worden ist“, fragt Degot, die mit der 57. Ausgabe des Avantgardefestivals den herrschenden Erzählungen einen „militanten Transnationalismus“ entgegensetzen möchte. Wobei natürlich auch gerade die Region Steiermark eine (durchaus identätsspendende) Tradition für transnationale Ideen hat – man muss hier nur auf die Festivalgeschichte und ihren prägenden „Trigon“-Gedanken verweisen.

Weil Museen bei der Identitäts(er)findung nicht nur von sozialen Schichten, sondern ganzer Nationen und gesellschaftlicher Ordnungssysteme eine wesentliche Rolle spielen (im 19. Jahrhundert genauso wie heute) wird das Joanneum, genauer die Neue Galerie, zum passenden Schauplatz der gleichnamigen, zentralen „herbst“-Ausstellung „Horror patriae“, in der ein Museum im Museum entsteht, das sich den „dunklen“ Fantasien und den gesellschaftlichen Konstruktionen widmet. Einerseits gespeist von zahlreichen Auftragsarbeiten, aber auch von Artefakten aus der riesigen Sammlung des Museumsverbands Joanneum. Denn ein Museum ist nicht nur ein Geschichts-Speicher, sondern auch ein Geschichten-Speicher, aus dessen Beständen man, je nach Intention, immer wieder neue Erzählungen konstruieren kann. Dass die Präsentation des „herbst“-Programms ausgerechnet im Zeughaus stattfand, war ja nicht nur ironischer Seitenhieb auf die Weltläufte, sondern schlichter Verweis auf die vielfältigen Ebenen, die so ein Haus repräsentiert. Oder wie Joanneum-Hausherr Marko Mele sagt: „Das Zeughaus ist ja nicht nur Museum, sondern auch ein Denkmal.“

Die Auftragsarbeiten für die Schau setzen sich natürlich intensiv mit der Region auseinander. Pablo Bronstein untersucht zum Beispiel die historistische Architektur von Graz, Thomas Hörl nimmt alpenländische Perchten als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Relation von Freiheit und Angst ­– eine Dialektik, die jedes Kind in unseren Breiten zu spüren bekommt.

Neben diesem „fiktiven Museum“ als zentralem Programmpunkt gibt es zahlreiche Performances, Installationen, Projekte und Festivals im Festival, alle Details dazu werden erst am 9. August veröffentlicht. Hervorgehoben seien jetzt aber schon „Das Phantom der Operette“ der transnationalen Gruppe La Fleur, die den unglaublichen Verwerfungen und Bezügen im Leben und Werk von Emmerich Kálmán sowie der Kunstform Operette nachgeht, oder der New Yorker Komponist und Künstler Ari Benjamin Meyers, der in einer Tennishalle Schlaflieder für Erwachsene inszeniert: 50 Betten für Besucher, denen Kinder Lieder vorsingen. Thomas Verstraeten vom Kollektiv FC Bergman aus Belgien verwandelt dagegen Kastner & Öhler in Graz zum Theaterschauplatz, der von der Inszenierung, Domestizierung von Natur erzählt. „Als ich in dieses Kaufhaus kam, bin ich stundenlang fasziniert durchspaziert, mir kam das wie ein Wald vor“, erläutert Verstraeten zur Ausgangsidee seiner Performance für 20 Spieler, die jeweils nach Geschäftsschluss stattfinden wird.

Das Theater im Bahnhof spürt den Ereignissen des FPÖ-Parteitages in Knittelfeld anno 2002 nach, Regisseur Felix Hafner gibt ein Reenactment eines historischen steirischen Volksliederabends, der 1925 in Äthiopien stattgefunden hat. Es wird aber auch um die legendäre, fast vergessene Reise des Fußballclubs GSC nach Indonesien und die sehr mexikanische Kunstform der „corridas“ gehen. Marta Navaridas, Helene Thümmel, Yoshinori Niwa und viele andere finden sich ebenso im Programm, und wenn man sehr deutlich vor Augen geführt bekommen will, wie das Heimelige ins Unheimliche umschlägt, dann wird man wohl bei einem Liederabend fündig, bei dem die Lieblingslieder von Diktatoren von Hitler bis Stalin angestimmt werden.