Der Preis für den originellsten und wohl auch längsten Buchtitel ist ihm gewiss, aber natürlich ist auch der Inhalt des neuen Werks des deutsch-bosnischen Schriftstellers Saša Stanišić wieder höchst originär, gewieft und literarisch hochwertig. „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ heißt das Buch, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht. Es ist kein Roman, so viel steht fest, auch kein Erzählband im klassischen Sinn. Aber ist es nun Fiktion, Autofiktion oder Autiobiografie? Im Grunde ist es völlig egal, denn jede Literatur ist bekanntlich vom Leben des Autors getränkt, und Saša Stanišić hat nie geleugnet, dass seine Erzählwelt untrennbar mit seiner Lebenswelt verbunden ist.

Die Erzählungen und Geschichten im neuen Buch sind oft im Migrantenmilieu angesiedelt. Stanišić selbst wurde 1978 im damals jugoslawischen Višegrad geboren, 1992 flüchtete er im Zuge des Bosnienkrieges mit seinen Eltern nach Heidelberg und verbrachte seine Jugend im Stadtteil Emmertsgrund. Und dort ist auch die erste Erzählung mit dem Titel „Neue Heimat“ angesiedelt. Eine Gruppe von „ausländischen“ Jugendlichen, darunter auch ein Saša, hockt im Sommer 1994 zusammen, und da hat Fatih, Gastarbeiterkind aus der Türkei, eine brillante Idee: „Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe?“ Die Details: Man geht hinein und probiert zehn Minuten die Zukunft aus. Kostenpunkt 130 Mark. Falls die Zukunft passt, loggt man sich fix ein. Kostet dann allerdings 130.000 Mark.

Saša Stanišić entpuppt sich einmal mehr als scharfsinniger Sprachschelm, der gerne auch wahlweise lustige, berührende oder blitzgescheite Pointen setzt. Die Erzählungen hängen lose zusammen, und immer geht es um andere Leben, andere Optionen, andere Abzweigungen – um Möglichkeitsräume also. Da ist zum Beispiel die Putzfrau Dilek, in deren Welt plötzlich die Zeit stehen bleibt, ohne dass sie es zunächst merkt. Sie nutzt aber den Stillstand, um ihr eigenes Leben zu überdenken. „Die Welt hatte sich lange genug an Dilekt bedient, jetzt bediente sich Dilek an der Welt.“

Auch die letzte Erzählung heißt „Neue Heimat“, und damit vollendet Saša Stanišić das genüssliche Spiel um Realität und Fiktion. Als erfolgreicher Autor kehrt er 2023 für eine Lesung nach Emmertsgrund zurück und findet dort Spuren seines Jugendlebens. Oder ist auch diese „echte“ Rückkehr nur ein Trick? Man weiß es nicht. Und es ist auch egal. Denn eines ist gewiss: Stanišić destilliert aus seinem Leben hochprozentige Literatur. Nur das zählt.

Saša Stanišić. Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Luchterhand, 254 Seiten, 24,70 Euro.