Willkommen in North Bath, Upstate New York. Die Frage ist nur, ob Sie – außer in einem Russo-Roman – dorthin möchten. Die Häuser und Straßen sind renovierungsbedürftig, die meisten Bars und Imbiss-Buden geschlossen, und dass hier jeder jeden kennt, ist auch nicht immer ein Vorteil. Im nahegelegenen Schuyler Springs sieht die Welt ganz anders aus: Weinbars, teure Restaurants, noch teurere Immobilien. Und die Gerüchte, die schon lange brodeln, stellen sich jetzt als Faktum heraus. Die beiden Orte werden zusammengelegt, und natürlich wird das raue und räudige North Bath eingemeindet.

Damit beginnt „Von guten Eltern“, der neue Roman des US-Schriftstellers Richard Russo, mit dem er seine grandiose Smalltown-Trilogie abschließt. Altbekannte Gesichter tauchen wieder auf, andere sind gestorben. Vor allem Donald „Sully“ Sullivan, Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, verließt die Bühne: Herzinfarkt. Schwer ums Herz ist es auch Polizeichef Doug Raymer, der seinen Posten verlassen und sich darauf einstellen muss, dass seine (Ex-)Freundin Charice Bond jetzt das Sagen hat. An diesem Paar lässt sich auch gut das Brodeln, das bei Russo-Romanen immer unter der Oberfläche herrscht, festmachen. Rayer ist weiß, seine Geliebte schwarz. Der Rassismus, der sowohl in North Bath als auch Schuyler Springs herrscht, ist omnipräsent – latent oder offen.

„Von guten Eltern“ spielt komprimiert an drei Tagen im Jahr 2010. Und der Schauplatz ist Trump-Country vor der Trump-Ära. Der Boden ist bereits aufbereitet: Die Rezession macht den Unternehmen und Bewohnern zu schaffen, Wut auf „die da oben“ macht sich breit, der politische Erlöser steht in den Startlöchern. Wie stets in seinen vielfach ausgezeichneten Romanen schafft es Russo auch diesmal wieder, eine mit leichter, aber sicherer Hand in die Landschaft gepinselte Smalltown-Story mit den großen Verwerfungen der Zeit und des Landes zu verbinden. Es geht um Bigotterie, Ausgrenzung, die Suche nach Sündenböcken, Gewalt auf allen Ebenen. Und natürlich hat Russo – ein ebenso gefinkelter wie warmherziger Erzähler – auch einen Kriminalfall ins Geschehen eingebettet. In einem alten, aufgelassenen Hotel, mit dem ein Grundstücksspekulant große Pläne hat, wird eine Leiche gefunden.

Doch im Mittelpunkt stehendie lädierten, aber lebendigen Menschen von North Bath. Mittelschicht, unteres Segment, fast jeder von ihnen mit einer Busladung von Problemen belastet. Sie taumeln durch ein ruppiges Leben, betrügen einander, sind vernarbt, oft voll Wut, Angst und Trauer, haben sich aber einen unwiderstehlichen Durchhalte-Charme bewahrt. Mag sein, dass sie das von „Sully“ gelernt haben, dem fehlbaren Helden von North Bath, dem Ort mit der grindigen Grandezza. Wer will schon ins sterile Schuyler Springs?

Richard Russo. Von guten Eltern. DuMont, 574 Seiten, 28,50 Euro.

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