Micky-Maus-T-Shirt, Sneakers, rosa Kopfhörer: Selena steht in einer iranischen Boutique vor einem Spiegel und tanzt. Eine Szene, die so überall auf der Welt passieren könnte. Im Iran indes nicht; zumindest nicht bei der Anprobe für die sogenannte Verpflichtungszeremonie in der Schule. Der Tag soll eine Zäsur im Leben des Mädchens sein, er markiert unumstritten das Ende der Kindheit und den Anfang als junge Frau.
Und das bedeutet: Es gelten künftig bestimmte Regeln für sie; wie für alle Frauen in der Öffentlichkeit. Die Stimme der Mutter ist zu hören, die der Verkäuferin erklären will, dass Selena bunte Farben liebt. Das sei nicht möglich, ist die Stimme der Verkäuferin aus dem Off zu hören. Kurze Zeit später sehen wir Selena in einem langen grauen Mantel und einem fast bodenlangen Schleier mit Ärmeln und rotem Blumenhaarkranz. Bis sie die Kluft ablegt und wieder tanzt.
Neun Episoden aus der iranischen Bürokratie-Hölle versammelt der Film „Irdische Verse“ des Regie-Duos Ali Asgari und Alireza Khatami. Sie alle sind streng komponiert, zeigen je eine Person frontal vor der Kamera, die von jemandem schikaniert wird: wie zum Beispiel einen frisch gebackenen Vater, der seinen Sohn David nennen möchte. Eine coole, am Kopf rasierte junge Frau, die ihr Taxi ohne Kopftuch lenkt. „Warum tragen Sie als Frau eine Kurzhaarfrisur?“, wird sie gefragt.
Eine Schülerin in der Pubertät, die von einem Burschen am Motorrad in die Schule gebracht wird – sehr zum Missfallen der Lehrerin. Ein tätowierter Mann, der unter seinem Hemd ein Micky-Maus-Shirt trägt. Der Mann ihm gegenüber ortet westlichen Einfluss. Die Autoritätspersonen – der windige Unternehmer, der Mann von der Führerscheinzulassungsstelle, die Verkäuferin – sind nicht im Bild zu sehen.
In zur Absurdität gesteigerten Situationen berichtet die Politsatire von einem System, das Kontrolle ausübt – bis ins private Leben der Protagonistinnen und Protagonisten. Die statischen Tableaus unterstreichen Machtverhältnisse und Abhängigkeiten von Bürgerinnen und Bürgern zum Staat. Die gewitzten Dialoge treiben die Schieflage auf die Spitze. Immer wieder wehren sich die Menschen, emanzipieren sich aus der Unmündigkeit, kontern schlagfertig und schwarzhumorig wie etwa die Schülerin, die die Lehrerin mit einem Mann im Park gesehen hat und sie erpresst.
Die Regimekritik ist in jeder Szene spürbar: detto feinster Sarkasmus. ●●●●○