Eine Szene, die durch Mark und Bein, aber vor allem mitten durchs Herz geht: Der Sohn, Leon, steht am Totenbett der Mutter, hält ihre bereits kalte Hand fest, mit der anderen greift er nach der Hand des Vaters, der daneben steht. Solcherart, durch die Verbindung dieser drei Menschen, entsteht ein letztes Mal so etwas wie ein Familiengefühl. Eine Illusion freilich, Selbstbetrug im Angesicht des Todes, denn längst schon ist diese Familie zerbrochen. Der Vater hat die Mutter bereits vor Jahren verlassen, der Sohn – ein weltenbummelnder Musiker – ist mit seinen eigenen Dämonen beschäftigt. Und natürlich kommt er auch zu spät, als die Mutter im Sterben liegt.

Bereits in seinem ersten Roman „Triceratops“ hat der oberösterreichische Schriftsteller Stephan Roiss die Verwerfungen innerhalb einer Familie beschrieben, im neuen Buch „Lauter“ taucht er in einen ähnlichen Kosmos ein, ohne sich zu wiederholen. An die Person des Leo knüpft er all die Untiefen einer Generation, die Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, aber auch und vor allem das Verhältnis zu den Eltern, das verzweifelt zwischen taumelnder Liebe, ersehnter Nähe und notwendiger Distanz pendelt.

Der Stil von Roiss ist eruptiv und berauschend, aber dennoch klar und präzise. Nie gleitet er trotz großer Emotionalität ins Triviale ab; nie liefert er einfache Antworten auf existenzielle Fragen. Wenn es Antworten gibt, dann spiegeln sich diese in der Entwicklung seiner Figuren wider. Es geht um Fragilität auf vielen Ebenen. Und darum, dass man oft erst nach dem Auseinanderbrechen, dann in anderer Zusammensetzung, mit den Fährnissen des Lebens zurande kommt.

Leon kapselt sich nach dem Tod der Mutter ab, muss von seinen Musikerfreudinnen fast gewaltsam aus der wehleidigen Isolation herausgebrochen werden. Der Reisende und Lebenskünstler erhält selbst eine Krebsdiagnose, fährt zu einem Freund nach Venedig, der seine Seelenruhe im Buddhismus gefunden hat. Weiter geht es nach Stromboli, wo ein „Höhlenkonzert“ geplant ist. Plötzlich steht auch der Vater vor Leon, zart-versöhnliches bahnt sich an.

Stephan Roiss ist selbst Musiker, und mit der Figur des Musikers Leon komponiert er eine variantenreiche Melodie in Worten. Dissonanz und Harmonie, Lautstärke und Stille wechseln einander ab. Der Soundtrack des Lebens lässt sich in keine Schublade, in kein Genre pressen. Es geht um die Grundfragen des Lebens und darum, wie man nach elementaren Erfahrungen wieder Boden unter den Füßen gewinnt. All das doziert Stephan Roiss nicht, er baut keine metaphysischen Hochhäuser, sondern Gebäude, in denen verunsicherte Menschen leben, lieben, leiden. Ein Buch, das noch lange nachhallt. Einmal „lauter“, einmal leiser, aber immer intensiv.
Stephan Roiss. Lauter. Jung und Jung, 240 Seiten, 23 Euro.