In den Jahren zuvor waren es eher die Großeltern – vorzugsweise weise Großmütter – die an irgendeinem abgelegenen Flecken dieser Erde gestorben sind. Die Enkelkinder – vorzugsweise junge Frauen – haben sich dann auf den weiten Weg gemacht, um dem Begräbnis beizuwohnen. Im Zuge dessen hat stets die – vorzugsweise dunkle – Vergangenheit die Besucherinnen/Trauernden eingeholt. Diese haben sich den Dämonen natürlich gestellt.

Die Autorinnen und Autoren dieser Geschichten, die einander mitunter doch sehr ähneln, sind meist auch deckungsgleich mit der Hauptfigur des Buches. Das nennt man dann autofiktionale Literatur, eine Mischung aus Autobiografie und Fiktion, und dieser Trend hält weiter an – wie eine Durchsicht der Frühjahrsneuerscheinungen zeigt. Nur sind es diesmal – von der Nordsee bis Anatolien – eher Mütter und Väter die – vorzugsweise überraschend – sterben, und Tochter oder Sohn reisen dann zum letzten Abschied an. Auch in dieser Buchsaison warten wieder Heerscharen von Dämonen in entlegenen Dörfern, die bezwungen oder zumindest beruhigt werden wollen.

Nun ist die autofiktionale Literatur natürlich alles andere als eine neue literarische Modeerscheinung. Der Begriff geht auf den französischen Schriftsteller und Kritiker Serge Doubrovsky zurück, der Autofiktion in den 1970er-Jahren als „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten“ definierte. Eine weitere Definition stammt von Gérard Genette, der Autofiktion als eine besondere Form der Fiktion versteht, bei der „der Autor unter eigenem Namen in das fiktionale Universum seiner Erzählung eintritt“

Das Problem, das viele Literaturkritiker orten: Der Anteil an Fiktion tritt immer mehr in den Hintergrund, im oft aufdringlichen Vordergrund stehen autobiografische Fakten, die oft nur notdürftig von Literatur umhüllt werden. Ein schelmisches Spiel mit dieser Gattung betreibt der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm in seinem hochgelobten Roman „In einer dunkelblauen Stunde“. Obwohl auch dieses Buch autofiktionale Züge trägt, lässt Stamm eine Figur poltern: „Dieses ganze autobiografische, autofiktionale Zeug, wozu soll das gut sein? Diese geheuchelte Authentizität, die verlogener ist, als jede Erfindung es je sein könnte.“

Eindeutig autofiktional ist auch das Buch „ Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann, das im März erscheint. Der Text der deutsch-kurdisch-jesidischen Autorin behandelt den Genozid an den Jesiden durch den IS, die Erzählfigur heißt Ronya. Bereits 2019 hat Othmann einen Textausschnitt daraus beim Bachmann-Wettbewerb vorgelesen, damit den Publikumspreis gewonnen und wurde daraufhin Klagenfurter Stadtschreiberin. Etwas Sonderbares ereignete sich damals, als die Jurorinnen und Juroren den Text beurteilen sollten, teilweise aber „wahnsinnige Hemmungen“ hatten, weil es sich eben nicht um eine fiktionale Erzählung, sondern reale, traumatische Ereignisse für die Autorin handelte. Mit Verlaub, das ist Unsinn. Auch wenn „Autofiktion“ draufsteht, ist in diesen Werken – so persönlich sie auch sein mögen – noch immer Literatur, also Kunst drinnen. Und diese darf und muss beurteilt, kritisiert und eingeordnet werden.