„Wiener Philharmoniker, Archiv“ steht Schwarz auf Gold auf dem Türschild zur Kammer knapp unter dem Dach des Musikvereins in Wien. „Zulässige Nutzlast 500 kg p. m2“ fordert ein Schild auf der Innenseite der Tür. Archivalien sind schwer, besonders Noten, für die Florian Wieninger und sein Kollege Andreas Lindner verantwortlich sind. Der größte Teil ihres riesigen Schatzes von etwa 12.000 Nummern lagert deshalb nicht hier, sondern im nahen „Haus der Musik“ im 1. Bezirk.

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Eigentlich führt das Wort Archivar in die Irre, findet Wieninger. „Das ist ein Managerposten, für den viel Know-how notwendig ist“, erläutert er. „Wer die Materialien der Philharmoniker verwalten will, muss ein Orchesterinstrument beherrschen und in einem Orchester gespielt haben“, sagt der Kontrabassist, der außerdem ausgebildeter Tonmeister und Aufnahmeleiter ist. Sein Kollege spielt Horn und forscht zu Anton Bruckner. Bis sie 2010 ihr Amt antraten, mussten es Philharmoniker nebenbei versehen.

Nichts fordert die Vielseitigkeit der beiden Herren mehr heraus als die Neujahrskonzerte. „Wir beginnen spätestens im Jänner mit unserer Arbeit“, erzählt Wieninger. Kaum ist der Name des nächsten Dirigenten verkündet, geht der Vorstand des Orchesters mit dem Erwählten daran, die Werke für das nächste Jahr auszusuchen.

Vorbereitungen laufen schon im Frühjahr

Für die Eile gibt es viele Gründe. Schon im Frühjahr müssen die Stücke für die Balletteinspielung geprobt, aufgenommen und „geputzt“, also sendefertig aufbereitet werden. Es sind die einzigen Teile des Konzerts, die das TV-Publikum nicht live hört, anders lässt sich die Gleichzeitigkeit von Tanz und Musik nicht gewährleisten. Auch wären im Winter die reizvollen Außenaufnahmen nicht möglich, die immer wieder zu besorgten Anrufen führen, wie denn das ginge, so spärlich bekleidet bei diesen Temperaturen zu tanzen!

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„Die Leute glauben, wir müssen die Noten nur aus dem Kasten holen. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein“, widerspricht Florian Wieninger. Für Stücke, die noch nie beim Neujahrskonzert gespielt wurden, gibt es oft überhaupt kein passendes Notenmaterial. Manchmal fehlen auch verlässliche Quellen. Eduard Strauß hat aus ungeklärten Motiven das gesamte Familienarchiv 1907 verbrannt.

Das Neujahrskonzert-Puzzle

Wenn die Quellenlage kritisch und Notenmaterial knapp ist, kommt Wolfgang Dörner ins Spiel. Er ist Gründer der Josef Lanner Gesellschaft, Herausgeber der Werkverzeichnisse von Lanner und Josef Strauß und lehrt an der KUG in Graz Dirigieren. Dörner muss aus vorhandenem Material – manchmal sind nur Orchesterstimmen vorhanden oder ein Klavierauszug – eine Partitur für großes Symphonieorchester erstellen. Am Ende werden die Stücke zu einer Dirigierpartitur zusammengebunden, „die wird dem Maestro natürlich geschenkt“.

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2023-12-15_KLZ_Notenarchiv_Philharmoniker_Akos_Burg © Akos Burg

Besonders herausfordernd war die Forschungsarbeit im Vorjahr, als Franz Welser-Möst fast ausschließlich Stücke gewählt hatte, die noch nie bei einem Neujahrskonzert erklungen sind. „Immer wieder müssen wir widersprüchliche Quellen aufeinander abstimmen“, erzählt Wieninger und berichtet von einer erstaunlichen Entdeckung. „Nicht einmal 30 Prozent der Musik der Familie Strauß wurde schon einmal im Neujahrskonzert gespielt.“

Wieninger holt die Orchesterstimmen des Walzers „Wiener Bonbons“ aus dem Kasten, um ein weiteres Problem zu schildern. Die Noten, mit denen schon Willi Boskovsky (Dirigent des Konzerts von 1956 bis 1979) gearbeitet hat, sind so vollgeschrieben mit Dirigentenanweisungen, dass sie an manchen Stellen kaum noch lesbar sind. Sie mussten durch neues Material ersetzt werden.

Besonders dramatisch ist die Abnutzung beim „Donauwalzer“. Das Orchester war sehr unglücklich, als nicht mehr die ehrwürdigen Noten auf den Pulten lagen. „Aber was soll ich machen, wenn das Papier weg ist, ist das Papier weg.“ Der Radiergummi hatte das Material durchgewetzt. Wie zum Trost haben sich die Archivare einen Spruch Gustav Mahlers ans Regal geheftet: „Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten.“

Jetzt gilt es, die Länge des Konzerts zu ermitteln. „Heuer haben wir die Option, 71 Wiederholungen zu machen oder eben nicht“, erzählt Wieninger. „Bei 20 bis 21 Titeln eines Konzerts sind das in Summe mehrere Minuten.“ Aus den Temponeigungen der Dirigenten und alten Aufnahmen errechnet er die wahrscheinliche Gesamtlänge. „Lieber ein bissl kürzer als ein bissl zu lang“, ist Wieningers Grundsatz; Die Sendezeit ist absolut zu respektieren, auch wegen der Werbung im Abspann, die nicht wegfallen sollte. Die Entscheidungen hält er in einem präzisen Drehbuch fest, das auch der Bildregisseur du die Tonmeister gemeinsam mit den Partituren vor sich haben.

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2023-12-15_KLZ_Notenarchiv_Philharmoniker_Akos_Burg © Akos Burg

Hinter der Tür zum Podium herrscht beim Vorkonzert, beim Silvesterkonzert und beim eigentlichen Neujahrskonzert Hochspannung. Rasch wird dem Dirigenten die Maske aufgefrischt, ein Glas Wasser gereicht, ehe der ORF-Inspizient via Headset den Einsatz zum nächsten Auftritt gibt. „Man darf die Komplexität, ein Neujahrskonzert zu dirigieren, nicht unterschätzen“, erzählt Wieninger, der seit seinem Dienstantritt keine Neujahrskonzert-Probe ausgelassen hat – „ein großer Luxus“.

„Ich frag mich manchmal, was sich der gute Johann Strauß denken würde, wenn er ein Neujahrskonzert miterleben dürfte“, sagt Wieninger. „Würde er lachen vor Glück, oder wäre er erstaunt, was aus seiner Musik geworden ist?“