Seit Anfang September hat Österreich ein gigantisches Loch, das größer als das Land ist. Ein Loch, das nicht so schnell zu stopfen ist. Anfang September ist Marcel Hirscher zurückgetreten und seither fahren wir in Slalom und Riesentorlauf hinterher, was eine Untertreibung ist.
Der Österreicher ist groß im Bestaunen seiner Löcher, definiert sich gerne über Niederlagen. Fast ganz Kakanien verloren, nur eine einzige, bedeutungslose Seeschlacht gewonnen, in den meisten Kriegen Prügel bezogen und im Sport nie wirklich was erreicht. Der Österreicher hat in unzähligen Exerzitien gelernt, Niederlagen als Einübung in den Katholizismus zu begreifen. Alles Irdische ist bedeutungslos. Der heimische Sportfan definiert sich seit Jahrzehnten über den Hättiwaritäti. Hätte der Schiedsrichter gepfiffen, wäre die Torstange zwanzig Zentimeter weiter links gestanden und so weiter.
Doch dann kam einer, der gewann und gewann und gewann, bis es ihm selbst zu viel geworden ist – Marcel Hirscher. Sogar der Zeitpunkt seines Karriereendes schien zu passen, nicht zu überhudelt wie bei Petra Kronberger, aber auch kein aufgepudeltes Weiterwursteln wie bei Gregor Schlierenzauer.
Hirscher wusste, wann der richtige Zeitpunkt ist – das hatte er mit dem letzten Papst gemein. Habemus Punktgenau. Und auch wenn sich halb Österreich die Daumen zu Powidl quetschte, nur damit er weiter konfitürte, war die Dramaturgie seines Abschieds gut gesetzt. Österreich ist zu klein für große Helden. Hier nörgelt man, dass einer, der von uns kommt, auch nichts Besonderes sein kann. Und als Motto gilt: Nichts gesagt ist gelobt genug. Wir leiden an Idolen. Falco wurde erst posthum beliebt, die Freiheitskämpfer kennt keiner mehr, Widerstandskämpfer wurden als Landesverräter diffamiert, Radetzky war ein kleiner, verbissener Choleriker, Andreas Hofer ein bärtiger Waldschrat, Natascha Kampusch wurde untergriffig übergriffig angegriffen und Künstlern ist man neidisch aus Prinzip.
Der Österreicher kann seine Helden nur akzeptieren, wenn sie gebrochen sind. Das ist wie bei chinesischen Gastgebern, die kleine Flecken ins Tischtuch machen, bevor die Gäste kommen, damit sich diese wie zu Hause fühlen. Doch dann kam Hirscher und zeigte, die Flecken braucht es nicht, die Ausrede des Österreicherseins zieht nicht mehr, das Suhlen im Selbstmitleid hat sich überlebt. Hirscher hatte keine dramatischen Niederlagen erlitten, wurde bei keiner Olympiade disqualifiziert, flog nicht über Nagano und musste sich auch nicht mit eingegipstem Unterleib zurückkämpfen, dennoch verdanken wir ihm historische Momente. Gegen immer unterschiedliche Gegner hat er seine Siege in den entscheidenden Rennen stets mit einer Coolness abgewedelt, dass man dachte, der Kerl hat Stahltrossen im Rückenmark.
Er war nie ein Systemprodukt des Skiverbands, sondern wie Dominic Thiem trotz klammerndem Verband ein freigespielter Superstar. Über Jahre hat er in einem fragil grazilen Sport die Konkurrenten betoniert. Sein größter Sieg? Wahrscheinlich der, gesund aufgehört zu haben. Gut, Skifahren ist keine Weltsportart, aber Teil der österreichischen Identität. Bundesheersoldaten werden zur Ausrichtung von Weltcuprennen abgestellt, „Skifoan“ von Ambros ist die heimliche Nationalhymne, und nicht mehr lange, dann hält sogar der Bundesadler Skistöcke und Liftbügel in den Krallen. Noch heute wird den Österreichern vermittelt, ihre Skifahrer hätten internationalen Bekanntheitswert. Wir lieben schlampige Genies. Hier lässt man Leute erst hochleben, wenn sie tot sind. Und dann Hirscher – makellos, erfolgreich, international bekannt und auch noch gesund ausgestiegen. Das ist so unösterreichisch wie paniertes Steak. Ob er das Land verändert hat?
Österreicher haben einen seltsamen Umgang mit ihren Stars, sehen lieber beim Verglühen als beim Strahlen zu. Immer noch. Doch Hirscher leuchtet hell – nicht nur vom Giebelkreuz. Aber das Loch, das er zurückgelassen hat, ist groß, zu groß. Norweger und Schweizer sitzen drin, lachen sich ins Fäustchen.