Anfang Juli schien der europäische Karren völlig verfahren zu sein. Bei der EU-Wahl im Mai hatte es eine Rekordbeteiligung gegeben, doch die Suche nach geeigneten Kandidaten für die fünf Top-Jobs in der Union steckte in einer Sackgasse. Das Parlament hatte auf das Spitzenkandidatenprinzip gesetzt, Manfred Weber (EVP), Frans Timmermans (S&D) und die Liberale Margrethe Vestager wären demnach als Nachfolger von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker infrage gekommen. Doch das Parlament, in dem sich die Mehrheitsverhältnisse geändert hatten, hob keinen der drei auf das Siegerpodest. Der Rat wollte ohnedies sein eigenes Süppchen kochen.
Fast drei Tage lang stritten die 28 Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel um die Namen, dann tauchte plötzlich einer auf, mit dem niemand gerechnet hatte: Ursula von der Leyen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war es, der die deutsche Verteidigungsministerin (CDU) ins Spiel brachte, und Angela Merkel und die anderen gaben grünes Licht. Von der Leyen, siebenfache Mutter, Ärztin und vor der Verteidigung schon als Ministerin für Familie und für Arbeit und Soziales zuständig, war selbst völlig überrascht, sagte aber sofort zu. „Das ist so eine Ehre, da zögert man nicht“, beschrieb sie im November in einem Gespräch mit der Kleinen Zeitung den magischen Augenblick.
In kürzester Zeit entwickelte „Röschen“, wie ihr Spitzname lautet (der auf zwei ihrer Brüder zurückzuführen ist) eine umfassende Strategie für die EU der kommenden Jahre. Sie wollte Geschlechterparität in der Kommission schaffen, setzte strenge Klimaziele und einen europäischen Weg zum Schutz der Umwelt an die erste Stelle der Prioritätenliste, thematisierte Gewalt gegen Frauen und rief zum Kampf gegen Steueroasen für Digitalriesen auf.
Das klang zwar alles gut, dennoch musste sie noch eine wesentliche Hürde nehmen: eine Abstimmung im Europaparlament. Sie wusste, dass es knapp ausgehen würde; die Grünen hatten sich trotz der grünen Themen nicht überzeugen lassen, die Sozialdemokraten waren sich uneins, die Linken und die Rechten gegen sie. Von Österreichs Abgeordneten stimmten letztlich überhaupt nur jene der ÖVP, die Fraktionsfreunde, für sie. Ursula von der Leyen hatte davor aber eine flammende Rede gehalten, in der sie auch viel Persönliches einfließen ließ. So erfuhr man etwas über ihren Vater (er war Ministerpräsident von Niedersachsen gewesen), ihre Kindheit in Brüssel (der Gedanke, wieder in Brüssel zu sein, sei wie eine Heimkehr), sie erzählte von ihren Brüdern und ihren Kindern und vom syrischen Flüchtling, den sie in die Familie aufgenommen hatte.
Die Entscheidung blieb knapp, aber sie hatte die entscheidenden Stimmen gewonnen: Mit neun Stimmen mehr als nötig wurde Ursula von der Leyen am 16. Juli vom Parlament bestätigt und ist seit 1. Dezember die erste Frau an der Spitze der mächtigsten Behörde der EU. Der Weg, den sie begonnen hat, ist noch weit.
Andreas Lieb