Wer einen Wirtschaftsdelegierten mit diesem Titel und Thema auf die Reise in sich selbst schickt, ist skrupellos: Die Zusammenführung von jahrelang eigentümlich verschränkten, aber immer sorgfältig getrennten „Personae“ des an sich unbeteiligten Ausländers, des engagierten Europäers und des Vertreters österreichischer Wirtschafts- und Unternehmensinteressen könnte leicht in die Selbstdiagnose einer milden dissoziativen Identitätsstörung münden. Den fremden Zaungast stört der Brexit, weil er ihn in einer wiederkehrenden, eindimensionalen Zeitschleife gefangen hält: aus jedem Medien- und Lebenseck grüßt täglich dasselbe Murmeltier. Jedes Gespräch im Freundeskreis fließt unvermeidlich abwärts zum immer gleichen Thema. Man schwört sich Besserung und trotzdem beginnt jeder neue Tag mit widerwilliger, aber unwiderstehlicher Gier auf den letzten Tweet. Den in London lebenden Zeitzeugen und Kommentator verunsichert der Brexit. Dieser ist zwar gespenstisch übergroß, aber findet woanders statt: in den Industriefriedhöfen in Nordengland, bei den „Abgehängten“ in der Vorstadt und am Land oder in den Revolverblättern der „Yellow Press“. In Mayfair und Notting Hill und im eigenen britischen Netzwerk gibt es nur glühende Europäer. Die lesen alle den „Guardian“ und den „Economist“ und entschuldigen sich bei den Ausländern. Da sucht der „Zeuge“ dann ab und zu den authentischen O-Ton im Gespräch mit einem Brexit-Hardliner aus der Politik, mit dem Taxifahrer oder Installateur. Nach dem Schrecken solcher Expeditionen in die Welt der Dummheiten, Halbwahrheiten und Heilsversprechen emigriert er schnell zurück in seine Blase.
Den Liberalen und engagierten Europäer ernüchtert und beängstigt der Brexit. Erste Reihe fußfrei bei einem tragikomischen Lehrstück für die zersetzende Kraft des Populismus ist gruselig faszinierend, aber nichts für schwache Nerven. Die Rezeptur für die Revolution gegen die liberale Demokratie ist im Königreich dieselbe wie anderswo – man sieht die Zutaten nur besser: Furcht vor sozialem Abstieg und Exklusion vor dem Hintergrund real zunehmender ökonomischer und sozialer Ungleichheit, Kriminalitätsangst, bürgerferne Politik und die Überforderung durch einen von vielen als überzogen empfundenen Werte- und Kulturwandel. Kontrollverluste an die supranationale EU bei eingeschränkter emotionaler Bindung an das europäische Friedensprojekt und „Entfremdung“ – vornehmlich verspürt durch die Belastung der ausgemergelten Infrastruktur durch Zuwanderung aus der EU – sind dann nur noch spezifisch britische Brandbeschleuniger.
Wer den Druckkochtopf der Zukunftsängste mit einer spielentscheidenden Ja/Nein-Frage öffnet, dem kocht die Angst über. Auch ein 400 Jahre altes demokratisches „Erfolgsmodell“ kann mit tiefen gesellschaftlichen Rissen abseits der ideologischen Wasserscheide nicht umgehen. Und Populismus ist ansteckend. Statt Mitte rechts und Mitte links stehen sich in Westminster dirigistische Rechtspopulisten und radikale Sozialisten gegenüber, die den Wählern Zukunftsvisionen und Umverteilungsfantasien andienen, die sich weder erfüllen lassen noch rechnen. Den Wirtschaftsvertreter frustriert der Brexit. Die eigene Energie und die Kraft eines ambitionierten Teams zum Gutteil darauf zu verwenden, Schaden von bestehender Klientel abzuwenden und Unternehmen auf unwahrscheinliche Worst-Case-Szenarien vorzubereiten, ist notwendig, aber weitaus weniger befriedigend als die gelernte Konzentration auf neue Chancen, neue Partnerschaften und neues Geschäft.
Der Brexit ist ein großes Thema – man darf ihn nicht kleinreden. Wirtschaftlich wird der Abgang aus der EU die Briten über die darauffolgenden zehn Jahre drei bis acht Prozent an potenziellem Wachstum kosten. Das ist zwar bitter, aber keine Katastrophe. Für viele heimische Unternehmen ist Brexitannien vom Wartezimmer zum unkomfortablen, aber noch immer lukrativen Wohnzimmer geworden. Die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas wächst, wenn auch gebremst und gedämpft, kontinuierlich weiter. Chancen und Potenziale sind vorhanden, auch wenn es teurer und schwieriger geworden ist, den Wagen in die Scheune zu fahren. Trotzdem ist es schwer, österreichischen Firmen Appetit auf einen Markt zu machen, über dessen politischer und wirtschaftlicher Zukunft Fragezeichen hängen. Da bleibt dann vieles liegen. Und ungenützte Chancen sind für einen Wirtschaftsdelegierten immer persönliche Niederlagen.
Christian Kesberg*