Kaum ein Thema hat die öffentliche Wahrnehmung heuer so stark geprägt wie der Klimawandel. Hat uns das in der Sache weitergebracht?Georg Kaser: In der Sache hat uns das überhaupt noch nicht weitergebracht, wenn wir etwa schauen, wie sehr heuer die Emissionen wieder angestiegen sind. Es war aber schon überraschend und außergewöhnlich, wie schnell und stark sich zuletzt die öffentliche Wahrnehmung zum Klimawandel geändert hat. Da hat sich im allgemeinen Bewusstsein sehr viel getan.


Warum ist es so gekommen?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ganz wesentlich dafür war Greta Thunberg und die darauf folgende „Fridays for Future“-Bewegung. Diese jungen Leute sind authentisch und auch legitimiert, etwas zu sagen, da es ja um ihre Zukunft geht. Und sie repräsentieren nicht zuletzt auch viele heutige und künftige Wählerstimmen. Und dann waren es natürlich zunehmende Extremereignisse, die in ihrer Häufigkeit und Kraft weltweit sichtbarer geworden sind. Die Statistiken zeigen – und daran besteht kein Zweifel mehr – dass wir viel, viel schneller in die klimawandelbedingten Veränderungen hineingeraten sind, als wir das angenommen hatten.


Waren die Annahmen zu vorsichtig gehalten?
Wenn man der Wissenschaft aus heutiger Sicht etwas vorwerfen könnte, dann dass wir etwas zu moderat vorausgeschaut haben. Heute wissen wir: Ein Fenster zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels wäre zwar noch offen, aber nur noch ein sehr kleines Stück weit.


Obwohl wir das wissen und öffentlich diskutieren, sind die globalen Emissionen 2019 weiter angestiegen. Führt die Welt hier eine rein akademische Debatte ohne Effekt auf das wirkliche Leben?
Ich denke, dass das Thema langsam schon eine Breite bekommt. Wir können mittlerweile ja auf recht einfache Weise darstellen, wie viel am Emissionen wir uns noch leisten können, um die Chance zu wahren, global unter 1,5 Grad Erwärmung zu bleiben. Daran sieht man, dass dieses Emissionsbudget mit dem derzeitigen Niveau des Treibhausgasausstoßes in wenigen Jahren ausgeschöpft wäre. Trotzdem geschieht nichts, es wird ständig nur um den Brei herumgeredet und beschönigt.


Warum ist das so, wo das Wissen doch vorhanden und für jeden zugänglich ist?
Darüber haben sich Verhaltens- und Gesellschaftswissenschaftler schon lange den Kopf zerbrochen. Viele Menschen sorgen sich, dass ihr Wohlstand durch mehr Klimaschutz eingegrenzt werden könnte. Das ist aber ein Trugschluss. Studien zeigen, dass das Erreichen der Klimaziele dem globalen Gemeinwohl sehr nützen würde. Nur scheinen wir leider in einer fast manischen Wachstums- und Gewinnmaschinerie gefangen, die das Gesamtheitliche nicht im Auge hat. Im Prinzip fehlt uns seit 30, 40 Jahren der kollektive Hausverstand.


Wohin hat uns das gebracht? „Fridays for Future“-Aktivisten warnen, dass die Welt am Rande einer Katastrophe stehe. Wird hier zu dick aufgetragen?
Nein, das ist nicht zu dick aufgetragen. Für die Menschheit als Gesamtheit ist es mit Sicherheit katastrophal, was auf uns zukommt. Neueste Analysen zeigen, dass neun von 15 Kipppunkten des Klimasystems bereits in Bewegung geraten sind, auch wenn sie noch nicht gekippt sind. Das sehe ich natürlich noch nicht, wenn ich heute zum Fenster hinausschaue. Aber wir müssen davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren viele Millionen Menschen durch die Folgen der Erwärmung ihre Heimat verlieren werden.


Wie sehen diese Folgen aus?
Das Klimasystem ist sehr komplex und dynamisch, Subsysteme interagieren miteinander und beeinflussen sich wechselseitig. Wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Schmelze in Grönland in den letzten zwei, drei Jahren immens beschleunigt hat, dass es in der Antarktis Anzeichen einer Destabilisierung gibt, dass die Nordatlantik-Zirkulation auf das Schmelzwasser reagiert und dass dadurch völlig veränderte ozeanische und atmosphärische Situationen entstehen können – dann zeichnet sich ab, dass unser ganzes Klimasystem auf den Kopf gestellt wird. Der Umbruch wird gigantisch sein und Mensch und Natur massiv treffen.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass wir das noch verhindern können?
Das geht nur dann, wenn wir endlich beginnen zu handeln. Jedes Kilogramm CO2, das Sie heute Nachmittag nicht ausstoßen, ist ein richtiger Schritt. Es muss dringend etwas passieren. Die genauen Pläne kann man nebenher ausarbeiten, aber parallel dazu müssten wir eigentlich heute schon begonnen haben, CO2 zu reduzieren. Wir hätten das vor 30 Jahren schon tun müssen, jetzt rennt uns die Zeit davon. So der so, es wird zu einem gesellschaftlichen Wandel kommen. Die Frage ist heute nicht mehr, ob wir so einen Wandel wollen, sondern ob wir ihn noch rechtzeitig aktiv gestalten und mitsteuern oder ob wir warten, bis er uns überrollt.

Muss klimabelastendes Verhalten teurer oder gar verboten werden?
Zuerst gehört einmal Kostenwahrheit hergestellt. Das ginge etwa mit einer ökologisch nachhaltigen Steuer, die sozial gerecht gestaltet wird.


Gleichzeitig gibt es, ausgehend von den USA, auch bei uns Strömungen, die den Klimawandel oder seine menschengemachte Ursache bestreiten. Bereitet Ihnen diese Entwicklung als Klimaforscher Sorgen?
Es sind nicht besonders viele, aber sie sind sehr laut und wurden auch von Medien immer wieder so gut positioniert, dass es aussieht, als wäre die Wissenschaft in diesen grundlegenden Fragen völlig uneinig. Es gibt heute noch Fernsehsender, die sich Diskussionsabende in irgendwelchen Hangars leisten und immer wieder jemanden aus dem Hut zaubern, der von der Sache keine Ahnung hat oder völlig fehlgeleitet ist. Dann entsteht der Eindruck: Na, man weiß es ja eh nicht so genau. Das ist Unfug, diese Zeiten sind vorbei. Die grundlegenden Vorgänge der Erderwärmung sind ja physikalisch relativ einfach.


Wie sicher ist also die Aussage: „Der Klimawandel wird hauptsächlich durch menschliche Aktivitäten angetrieben“?
Das ist hundertprozentig richtig. Man hat alles durchgetestet und durchgerechnet: Es gibt keinen anderen Grund, der in der Lage wäre, das zu verursachen, was wir gerade beobachten. Das wissen wir heute völlig ohne Zweifel.


Wagen wir zum Ende des Jahres 2019 einen Blick ins Jahr 2020: Wird uns das Klimathema weiter so intensiv beschäftigen, oder war das heurige Jahr eine Ausnahme?
Ich glaube nicht, dass das ein Strohfeuer war. Ich denke, das Thema wird verankert bleiben und sich sogar noch verstärken. Denn das Klima wird mehr und mehr zeigen, dass es außer Rand und Band gerät. Das sehen wir heute schon, von Überschwemmungen im Sudan bis zu den Buschbränden in Australien. Und das wird in Zukunft noch viel deutlicher zutage treten.