"Ich will das jetzt nicht.“ Der Schlüsselsatz fällt in der Mitte der ersten Folge, jeder hört es, jeder sieht es. Die beiden küssen einander, sie schiebt ihn bestimmt weg, ein kurzes Gerangel. Danach drückt der arrivierte Schmeichelsänger Carsten die junge Sängerin Leonie unsanft gegen die Wand. Es folgt ihr leises, gut hörbares „Nein“. Er penetriert sie.

Die ARD-Serie „37 Sekunden“ gefällt sich auf Messers Schneide, eine Gratwanderung und eine Geschichte, „die nicht in schwarz-weiß denkt, sondern eher in Grau“, sagt Emily Cox dazu. Die Schauspielerin spielt Clara, die beste Freundin des Opfers und Tochter des mutmaßlichen Täters. Eine Doppelrolle, schwer zu erfassen, dabei hochaktuell: Der Fall Rammstein schwebt wie ein Begleittext über der Serie. Auch wenn Darstellerin Cox zu Recht betont: „Unsere Geschichte ist eine völlig andere, weil es bei uns um eine Liebesbeziehung geht, bei der Grenzen überschritten werden.“

Die Serie nimmt sich sechs Folgen lang Zeit, für die Frage der Einvernehmlichkeit und, viel wichtiger, Zeit für die Figuren. Angefangen bei Leonie (Paula Kober), die einzuordnen versucht, was in dieser Nacht mit Carsten (Jens Carsten) tatsächlich passierte. Oder Carstens Ehefrau Maren (Marie-Lou Sellem), die sich im Erfolg ihres Mannes sonnt, solange dieser vom Gipfel der Beliebtheitsskala scheint. Und Clara (Cox), die ihre Freundin bestärkt, gegen den Vergewaltiger vorzugehen: „Nein heißt nein!“ Bis sie versteht, dass es sich bei dem geheimnisvollen Mann um ihren geliebten Vater handelt.

Für Emily Cox ist es nach dem Kinofilm „Alma und Oskar“ und einer Episodenrolle im „Steirerkrimi“ die nächste Produktion mit starkem Musikbezug. Das sei Zufall, sagt die britisch-irische Schauspielerin, die in Österreich von Musik umgeben aufwuchs: die Mutter Pianistin, der Vater Pianist. Bis heute ist die Musik jene Kunstform, die ihr am nächsten ist. Das Fundament wurde kurz nach der Geburt gelegt, wie die 38-Jährige schmunzelnd erzählt: „Als ich auf die Welt gekommen bin, hat mein Papa als erstes – meine Mutter wurde noch genäht – einen großen Kassettenrekorder neben mein Ohr gehalten und mir was vorgespielt. Ich muss einmal fragen, was das war.“

Am ARD-Serienprojekt (Regie: Bettina Oberli) liegt Cox viel. Ein komplexes Thema, auf komplexe Art erzählt, differenzierter als die öffentliche Debatte: „Wann ist ein Übergriff ein Übergriff?“, fasst es Cox zusammen. Die Fiktion spiegelt die Polarisierung realer Debatten. Die einen glauben dem charmanten Carsten, die anderen versuchen, das Opfer zu bestärken. Im Verlauf der Folgen rückt die Rolle Claras immer stärker in den Mittelpunkt. Bis irgendwann gar nichts mehr geht und die zwiegespaltene Tochter/Anwältin verloren gegen eine Wand rennt. Die vielleicht stärkste Szene in einer insgesamt bis in die Nebenfiguren klug gestrickten Serie.
„37 Sekunden“ ist ein MeToo-Drama, ebenso wie eine Freundinnen-, und Anwaltsgeschichte oder ein Krimi. Weil ermittelt wird freilich auch, die Schuld kennt nicht nur eine Ebene. Dass die TV-Zuschauer von Beginn an über alles im Bilde sind, eröffnet erst den Blick auf die Vielschichtigkeit des Themas.


„37 Sekunden“, Dienstag, Mittwoch sowie am 22. und 23. August, ARD, 22.50 Uhr und in der ARD-Mediathek.