Mehr geht nicht“, sagt Elena (Marlene Tanczik) und schaut fassungslos in den Spiegel. Sie ist überschminkt, trägt Perücke und kann doch ihr Alter nicht verbergen. Sie hat auf einen Schlag nicht nur 38 Jahre an Lebenszeit verloren, sondern ihren gesamten Lebensentwurf gleich mit. Die, die es sich leisten können, die verlängern ihre Leben. Mehr noch, sie werden wieder jung. Das Biotechnologieunternehmen Aeon macht es möglich. Die Keiler, die vorwiegend arme, verzweifelte Leute im Visier haben, nennt man Donation-Manager. Das Leistungsprinzip des Kapitalismus ist abgeschafft, die neue Ressource heißt: Lebenszeit. Die kann auf einen anderen Körper übertragen werden. Du gibst mir Jahre, ich gebe dir Geld. „Der letzte große Schritt zur Freiheit“, wird die Aeon-Chefin Sophie Theissen (Iris Berben) das so schön grauslich umschreiben.

Für die einen eine wahr gewordene Utopie, für Elena eine Dystopie: Für ihre Wohnung hat sie ihr Leben einst unbedacht als Bürgschaft eingesetzt. Die Wohnung ist abgebrannt, nun ist Zahltag. Sie und ihren Partner, Donation-Manager Max (Kostja Ullmann), trifft der Horror einer Gesellschaft, die ihr wichtigstes Gut, das Leben, zur Handelsware gemacht hat, mit voller Wucht.

In zwei Stunden verdichtet „Paradise“ (Netflix) die Auswirkungen dieses Horrors ohne sich in Sachen Moral am plumpen Schwarz-Weiß-Denken festzukrallen. Vielmehr werden in dieser Ausnahmesituation Wünsche, Sehnsüchte, Verzweiflung und Gier zum unkontrollierten Motor individuellen Handelns. Ein fabelhaftes Lehrstück, das sehr breit gefächert die schier übermächtigen Konsequenzen einer Frage skizziert: Was passiert, wenn das Leben eines Menschen ein Preispickerl bekommt? Dass der Film auf übertriebenes Science-Fiction-Setting verzichtet und nah an der Jetztzeit bleibt, macht die Produktion gleich noch gruseliger.

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆ (4/5)

"Paradise" ist auf Netflix zu sehen.