Die RomCom benötigt dringend einen Neuanstrich. Die gerade im Streaming-Zeitalter am laufenden Band produzierten Liebesfilmchen mögen bestimmt noch einen gewissen Reiz ausüben, doch die altbewährte Formel hat sich langsam, aber sicher abgenutzt. Frische Ideen sind erwünscht. Umso erstaunlicher, dass aus dem Nichts eine Low-Budget-Produktion aus Großbritannien ums Eck kommt, die dem Genre endlich den lange erhofften Adrenalinschub verabreicht. Mit "Rye Lane" ist Regie-Debütantin Raine Allen-Miller nämlich ein ganz großer Wurf gelungen, der Hollywood beweisen sollte, dass große Romanzen weder große Stars noch große Kosten erfordern.
Die Grundgeschichte ist schnell erzählt: Dom (David Jonsson) mag es einfach nicht gelingen, über seine Ex hinwegzukommen, auch drei Monate nach der Trennung ist der Schmerz noch groß. Wie es der Zufall so will, sollte ihn aber ausgerechnet eine spontane Heulattacke zur schicksalhaften Begegnung schlechthin führen. Während der introvertierte Exzentriker auf einer Museumstoilette wieder mal sein Liebesleben betrauert, wird plötzlich die junge Künstlerin Yas (Vivian Oparah: wundervoll) Zeugin seiner Emotionen. Es knistert ordentlich zwischen den zwei Unbekannten, die Chemie scheint von Anfang an zu stimmen. Was folgt, ist ein Streifzug durchs moderne London, bei dem Abstecher in Karaokebars, Taco-Buden (samt belustigendem Kurzauftritt von "RomCom"-König Colin Firth) und mehr oder weniger rachsüchtige Zusammenkünfte mit ehemaligen Partnerinnen und Partnern nicht fehlen dürfen. Und wer weiß: vielleicht wird ja auch noch die eine oder andere Zärtlichkeit ausgetauscht.
Was wie ein relativ klassisches Konzept für romantische Komödien klingen mag, bewirkt in der Umsetzung wahre Wunder. Die Inszenierung ist von vorne bis hinten mit kreativen Einfällen gespickt, die das Setting mit Leben füllen. Vignettenhafte Anekdoten über verflossene Liebschaften, deren Wahrheitsgehalt man nicht immer genau unter die Lupe nimmt, erhalten über die verspielte Visualisierung den Esprit und die Intensität eines vollwertigen Kurzfilms. Doch letztlich liegt die große Stärke des Films in den fein ausgearbeiteten Dialogen, den Beobachtungen über alltäglichen Beziehungskram und neu entfachte Liebeleien. Der natürliche Charme und die ungekünstelte Leichtigkeit der Echtzeit-Konversationen wecken in manchen Momenten sogar Erinnerungen an den unvergesslich romantischen Wien-Trip, den Julie Delpy und Ethan Hawke einst in "Before Sunrise" unternahmen. Und selbst vor Meisterwerken wie dem von Richard Linklater braucht sich dieses erfrischende Liebesmärchen nicht zu verstecken, denn auch "Rye Lane" ist eine Indieperle zum Verlieben.
Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆ (4/5)
"Rye Lane" ist auf Disney+ zu sehen.
Christian Pogatetz