Sie sind offenbar endgültig vorbei, die Abende, wo man selbst auf der eigenen Couch peinlich berührt zum Taschentuch gegriffen hat: Herzschmerz durch eine Überdosis romantischer Komödien. Seit die Streamingdienste das weite Feld von Horror und Mystery großflächig beackern, muss man auf Herzschmerz aber nicht verzichten: Der Schmerz, er ist nur ehrlicher, spürbarer geworden. Aber so ist das, wenn einem das Herz bis zum Hals schlägt.

„Bird Box“ heißt der neue Kassenschlager, für den Netflix sogar sein Schweigegelübde in Sachen Zuschauerzahlen gebrochen hat: Allein in den ersten sieben Tagen haben rund 45 Millionen Nutzer den Streifen mit Sandra Bullock in der Hauptrolle gestreamt. Der Inhalt ist schnell erklärt: Unsichtbare Wesen treiben Menschen weltweit dazu, Selbstmord zu begehen. Wer überleben will, verbindet seine Augen. Tester der Kategorie „Jugend forscht“ versuchen nun im Netz unter #birdboxchallenge dem Mirakel „Blinde Kuh“ auf den Grund zu gehen. Netflix warnt nicht ohne Augenzwinkern vor dem Trend und bedankt sich für die Betankung der Hypemaschine.

Horror und Mystery, das ist längst kein Nischenprodukt mehr, erklärt Markus Keuschnigg, Leiter des /slash Filmfestivals, das auch auf Horrorfilme spezialisiert ist: „Man merkt, dass sich in den letzten Jahren Autorenfilme verstärkt dem Horror-Genre zuwenden. Nehmen wir Filme wie 'Hereditary' oder 'A Quiet Place' aus dem letzten Jahr her, das sind Filme, die ein generelles Publikum ansprechen, weil sie nicht nur die klassische Geisterbahnfahrt, sondern darüber hinaus auch charakterspezifische Dramen anbieten.“

Einen Film streicht Keuschnigg hier besonders hervor: „Get Out“, im Vorjahr mit einem Oscar prämiert und seit Montag auf Amazon Prime zu sehen: Die Horror-Satire dreht sich um das Thema Alltagsrassismus. Chris, ein Schwarzer, lernt die Eltern seiner weißen Freundin auf deren Landsitz kennen - das Grauen, es kommt schleichend. „Ein wunderbar konstruierter Film, der einen mehrfach hinters Licht führt. Ein Sonderfall von einem politisch aktuellen Film.“

Und ein gutes Beispiel dafür, dass längst nicht mehr nur Freddy Krueger die Hauptrolle spielen muss, wie der Experte die Essenz des Gruselns auf den Punkt bringt: „Ja, es geht immer auch um das Monster. Aber letzten Endes geht es um die menschlichen Reaktionen darauf. Was macht eine Bedrohung von außen mit dem Innen? Im Horror kann man wunderbar Ängste durchspielen und man wird erleben, dass diejenigen überleben, die sich auch ihren Ängsten stellen.“

Die Couch wird also immer öfter zum Angst-Bewältigungs-Bootcamp: Mit „Stranger Things“, „The Haunting of Hill House“ und jetzt „Bird Box“ hat allein Netflix in den letzten beiden Jahren für viel Gänsehaut gesorgt. Wobei diese Produktionen, so der Horrorfilm-Aficionado Keuschnigg, nur der Lichtkegel auf der dunklen Kellertreppe sind, denn seiner Erfahrung nach würden auf einen Erfolg wie „Bird Box“ rund 20 aktuelle Horrorproduktionen kommen, die niemand wahrnimmt. Stichwort: die eigene Filterblase.

Das unterstreicht einen Verdacht, den wir ohnehin schon lange hegen: Netflix & Co. sind wie ein Spukhaus mit unendlich vielen Zimmern, ein Entrinnen ist unmöglich. Gruselig? Ziemlich sicher sogar.