Sie waren unlängst Chefredakteur für das „Zeit“-Magazin und haben dort eine Rangliste Ihrer eigenen Platten erstellt. „Bleibt alles anders“ bleibt Ihr Lieblingsalbum, „Luxus“ das Stiefkind. Können Sie die neue CD „Tumult“ schon einreihen?GRÖNEMEYER: „Luxus“ ist 1990 erschienen und hatte mit meiner persönlichen Situation damals zu tun. Es sind schon einige vernünftige Stücke drauf, aber die Platte war durchsetzt von viel Selbstgefälligkeit. „Tumult“ hingegen ist sehr kompakt und stabil, jedes Stück in sich geschlossen. Ich glaube, das ist die dichteste Platte, die ich je gemacht habe.

Man spürt in den Songs eine große Entschlossenheit.
GRÖNEMEYER: Das gefällt mir. Das ist eine gute Beschreibung.

„Tumult“ wird von vielen Kritikern als politischste Platte Ihrer Karriere bezeichnet.
GRÖNEMEYER: Ich habe immer Stellung bezogen, aber es ist schon die politischste Ära in meinem Leben. Was die Nervosität und Aufgeregtheit betrifft, leben wir in einer sehr komplexen Zeit. Die Menschen sind sehr aufgescheucht. Da stellt sich auch für mich die Frage: Wie gehe ich selbst damit um, wie ordne ich das in meinem Kopf ein?

Was können wir als Gesellschaft tun, damit es „keinen Millimeter mehr nach rechts“ geht, wie Sie in einem Song singen?
GRÖNEMEYER: Ich sehe die Gesellschaft auch als Familie. Und wenn sich eine Familie Sorgen macht, sollte sie zusammenrücken. Und es gehen ja auch Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Rechtspopulismus, Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren. Ich glaube, die Mitte hat den Kopf und das Herz noch auf dem richtigen Fleck. Wir müssen uns als Gesellschaft, als Familie auf einen Kanon einigen. Was wollen wir? Was wollen wir nicht? Und was wir nicht wollen, müssen wir lauter artikulieren, damit wir den pöbelnden Rändern das Handwerk legen.

Woher kommt diese Aufgescheuchtheit, wie Sie es nennen?
GRÖNEMEYER: Es gibt ja reale Probleme, die soll man gar nicht wegdiskutieren: Digitalisierung, Globalisierung, soziale Ungleichheit. Aber dennoch leben wir nach wie vor in sehr stabilen Umständen. In dieser Phase ist ein extremer Notfall entstanden durch die Kriege im Nahen Osten und in Afrika. Deshalb sind Menschen losmarschiert, um Sicherheit zu suchen. Sie tun das in Ländern – in Deutschland, in Österreich –, die selbst noch wissen müssten, welches Unheil Kriege anrichten. Und was wir gerne vergessen: Die Kriege, durch die diese Menschen jetzt vertrieben werden, haben wir zum Teil mitausgelöst, indem die Herren Blair und Bush den Irak-Krieg angezettelt haben. Jetzt befinden wir uns also in einer schwierigen Situation, sollten aber in der Lage sein, mit Anstand damit umzugehen. Um Gottes willen, wir reden ja nicht von einer akuten Bedrohung! Ich kann noch immer frei und ungestört durch Wien oder Berlin laufen.

Aber wo liegen die Wurzeln dieser allgegenwärtigen Angst und des Jammerns darüber, wie schlecht es uns geht?
GRÖNEMEYER: Einerseits ist natürlich das Internet ein wunderbarer Spucknapf. Jeder kann sich weltweit in Sekundenschnelle auskotzen. Das führt zu einer verbalen Verrohung, und das macht auch etwas mit unseren Köpfen, mit unserem Denken und in der Folge mit unserem Handeln. Wobei diese Spucker und Kotzer noch immer eine Minderheit sind. Jetzt liegt es an uns, der Mehrheit, aufzustehen und ganz laut zu sagen: Verdammt, wir wollen euren chauvinistischen, frauenfeindlichen, fremdenfeindlichen Scheiß nicht! Ihr vergiftet das Klima!

Wir sitzen in Österreich. Sie leben in Deutschland, Ihre Wahlheimat ist Großbritannien. Wie geht es Ihnen derzeit als Europäer?
GRÖNEMEYER: Ich mach mir extreme Sorgen, aber gleichzeitig bin ich überzeugt, dass wir die Probleme lösen können und an ihnen wachsen werden. Ich habe einmal mit einem Psychoanalytiker gesprochen und der hat gemeint, dass die meisten Kulturen lösungsorientiert seien. Aber wir in Deutschland und wohl auch in Österreich neigen dazu, uns in den Problemen zu verheddern. Die Probleme sind klar: Wie schaffen wir es, den Menschen, die neu zu uns gekommen sind, eine Heimat zu geben? Wie schaffen wir es, dass sich jene Menschen, die schon lange bei uns sind, nicht plötzlich fremd und angefeindet fühlen? Da müssen wir gefälligst an Lösungen arbeiten. Und die Lösung kann nicht sein, die Schuld – woran auch immer – bei Menschen mit anderer Herkunft zu suchen. Es kommen jetzt viele politische Themen hoch, das finde ich prinzipiell gut. Aber diese Themen mit dem Sündenbock-Reflex abzuhandeln, ist ein absurdes und unwürdiges Theater.

Aber „der Fremde“ muss in der Praxis oft als Ursache für Probleme und Missstände aller Art herhalten.
GRÖNEMEYER: Ja, aber nicht übersehen darf man, dass sich sehr viele Menschen auch um diese Flüchtlinge kümmern. Man hört ja meist nur die lärmenden, gehässigen Trolle, die ruhigen, helfenden Hände sieht man oft nicht. Fakt ist auch, dass es sich bei den Flüchtlingen um komplexe Menschenschicksale handelt. Das sind nicht irgendwelche Sozialschmarotzer, denen es gerade langweilig ist in Syrien und die deshalb nach Deutschland gehen. Und noch ein Wort zu den „Fremden“. Auch Österreich ist auf den Schultern von Fremden gebaut. Ich selbst komme aus dem Ruhrgebiet. Ohne die Menschen, die in den 60er-Jahren zu uns gekommen sind – die Polen, Türken, Italiener, Griechen, Spanier –, gäbe es dieses Deutschland nicht. Fakt ist, diese Menschen haben diese reichen Länder zu dem gemacht, was sie sind.

Sind nicht viele Ängste gerechtfertigt, Stichwort Terror?
GRÖNEMEYER: Natürlich sind wir durch die Anschläge von Islamisten beunruhigt, das darf man nicht kleinreden. Und in diese Nervosität grätschen die Populisten hinein und sagen: Seht ihr, daran ist nur der Flüchtlingsstrom schuld. Und exakt das ist falsch. Terrorismus und Extremismus gab es immer. Und: Die Welt ist offen geworden, die ist nicht mehr zu. Mit einem gewissen Chaos müssen wir uns leider auseinandersetzen.

Es gibt auch nichtpolitische Songs auf dem neuen Album. Insgesamt hat man den Eindruck, dass Sie mit aller Gelassenheit bei sich selbst angekommen sind. Ist das so?
GRÖNEMEYER: Ich bin in privater Hinsicht guten Mutes. Ich kann dem Leben mit meiner 62-jährigen Reife gegenübertreten. Ich könnte zwar vier bis sechs Kilo weniger haben, aber im Grunde ist alles stimmig. Mich zeichnet eine große Lebensfreude aus, das habe ich vermutlich von meinem Vater. Im „Zeit“-Magazin, das ich machen durfte, wird ja die Frage gestellt, was der Unterschied zwischen leichter Sinn und Leichtsinn sei. Die Antwort von der Politikerin und Politikwissenschafterin Gesine Schwan lautete: „Leichter Sinn ist die Grundlage für Mut – und Leichtsinn genau das Gegenteil.“ Und darum geht es auch auf meiner neuen Platte. Gerade schwierigen Zeiten sollte man mit einer gewissen Leichtigkeit entgegentreten – das muss ja nicht Unernst bedeuten. Wir müssen die Probleme der Zeit als Gesellschaft gelassen lösen. Hysterie und Angst sind da völlig falsch und kontraproduktiv.

"Tumult" von Herbert Grönemeyer
"Tumult" von Herbert Grönemeyer © Universal Music