Sie haben einen Text des persischen Universalgelehrten Omar Khayyam vertont. Darin heißt es: „Von allen, die auf Erden ich gekannt, ich nur zwei Arten Menschen glücklich fand: Den, der der Welt Geheimnis tief erforscht, und den, der nicht ein Wort davon verstand.“ Wäre es also nicht sinnvoller, nichts verstehen zu wollen und glücklich zu sein?
FAZIL SAY: Weil ich nicht so bin, kann ich das nicht beantworten. Ich habe sehr viele total apolitische Freunde, die zornig werden, wenn am Tisch über Politik gesprochen wird. Ich mag sie, dann reden wir eben über andere Dinge. Etwa darüber, wie gut italienisches Essen ist: Büffelmozzarella und Pasta! Wunderbar! Oder Fußball. Viele meiner Freunde in der Türkei wollen nicht darüber sprechen, dass es einen Militärputsch im Land gegeben hat. Die Menschen, die sich mehr Gedanken machen, die mehr denken, haben viel mehr Konflikte und Probleme als die anderen. Aber sie haben diesen Weg gewählt. Wie ich auch. Als Komponist muss man Neues schaffen. Das geht nicht ohne Denken. Aber das hat mir, wie Sie wissen, viele, viele Probleme eingebracht.
Wie ist es mit dem Glauben? Woran glauben Sie?
Ich glaube an Menschen, an die Musik, an ein produktives Leben. Ich glaube an das, was ich am besten kann. Über Religion zu sprechen, ist dagegen nicht wichtig.
Weil es Probleme schafft?
Wahrscheinlich. Schauen Sie, ich bin auf Tournee mit 25 Musikern. Wer da im Orchester katholisch oder jüdisch oder muslimisch oder atheistisch ist, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen.
Wie war Ihre Kindheit?
Meine Eltern wurden geschieden, als ich vier Jahre alt war. Ich habe mit drei Jahren nachgespielt, was ich im Radio oder auf Platten hörte. Auf dem Akkordeon, mit der Blockflöte, womit auch immer. Dann bekam ich Klavierunterricht. Ich hatte einen sehr guten Lehrer. Wenn ich zu ihm kam, fragte er als Erstes: Was hast du heute gesehen? Erzähle mir davon einmal mit dem Klavier!
Sie sind ein Geschichtenerzähler geblieben?
Das Erzählerische ist auch in meinem heutigen Spielen sehr wichtig. Ohne Mozart zu ändern, kann man spontane Geschichten im Kopf darüber hinaus erzählen. Das inspiriert mich immer noch am meisten.
Welche Beziehung haben Sie zu den 88 Tasten?
Hm. Ich denke, ein Klavier kann ein ganzes Opernhaus sein, ein Orchester, ein Klangreich. Technik und Perfektion sind wichtig, aber noch wichtiger ist, aber auch schwieriger, was man mit dem Werk an einem bestimmten Ort erzählen will.
Sie haben eine spezielle Beziehung zu Mozart: Was ist für Sie das Besondere an ihm?
In meiner Jugend, so im Alter von 19 bis 25, habe ich eine geheime Tür zu ihm gefunden. Meine Beziehung zu ihm ist wie ein Geschenk. Seine Operngeschichten sind für mich so klar, da brauche ich keinen Schlüssel, um diese Tür zu öffnen.
Es gibt Parallelen in Ihren beiden Leben: Mozart war ein Wunderkind, Sie spielten auch schon mit drei. Er war ein Enfant terrible, sie auch?
Ja, warum nicht? Aber die Sache ist ja die: Wir wissen nicht, wie Mozart gespielt hat, wir haben ja keine Youtube-Aufnahmen von ihm. In den ersten zehn Jahren meiner Karriere war ich ständig damit konfrontiert, dass die Menschen fragten, ob die Art, wie ich Mozart spiele, wohl die richtige ist.
In einem Text von Nâzim Hikmet, den Sie auch vertont haben, heißt es: „Leben einzeln und frei / wie ein Baum und dabei / brüderlich wie ein Wald“ – ist das eine Utopie?
Momentan sieht es nach Utopie aus, in dieser Welt, in dieser Zeit. Dieses Gedicht habe ich auch in meinem Oratorium vertont. Wenn Hikmet jetzt leben würde, in der Zeit des Terrors und des Krieges im Nahen Osten, mit den Problemen in den USA und Europa, den Auswüchsen des Kapitalismus, den ganzen soziopsychologischen Problemen: Was würde er heute schreiben?, frage ich mich. Seine Gedichte geben Hoffnung.
Sie denken, dass er heute pessimistischer wäre?
Ja, ich denke schon. Wohin geht es in den nächsten 20, 30 Jahren? So viel Krieg und Terror überall. Was wird mit der Musik sein? Wird es noch Konzerte geben? Wird es überhaupt noch Musiker geben? Es gibt sehr viele Fragezeichen.
Sie sind in Ankara geboren, leben in Istanbul und überall, wo Sie Konzerte geben. Empfinden Sie sich als Weltbürger?
Als Musiker sowieso. Ich habe vier Jahre in Deutschland studiert und war sieben Jahre in New York. Heute bin ich zwei Drittel des Jahres auf Tournee, und ein Drittel zu Hause in der Türkei. Istanbul ist eine wunderschöne Stadt – wenn man für ein paar Tage als Tourist kommt. Aber es ist eine ermüdende Stadt für jemanden, der immer dort lebt und den ganzen Stress einer 16-Millionen-Stadt täglich erlebt.
Wo in Istanbul leben Sie?
Ich wohne in der gleichen Gegend wie Orhan Pamuk, in Niantai. Er ist ein Freund von mir und kommt manchmal zum Abendessen. Niantai ist auf der europäischen Seite, ein westlich orientierter Stadtteil. Es gibt aber auch rein islamistische Stadtteile, in denen Frauen mit Burka gehen. Istanbul trägt beides in sich.
Istanbul ist laut Orhan Pamuk überzogen von hüzün, einer Art Melancholie, „besonders stark an früh hereinbrechenden Abenden (...) wie Möwen, die auf moosüberzogenen verrosteten Pontons verharren“. Spielen Sie so, wie Sie spielen, weil hüzün in Ihnen ist?
Das türkische hüzün ist bekannt, das ist ein genetischer Faktor. Aber nicht nur Türken kennen dieses Gefühl. Schauen Sie nach Tschechien. Hören Sie Janácek! Auch das ist hüzün. Ich könnte auch Österreicher nennen, denen hüzün nicht fremd ist. Im ganz philosophischen Sinne bedeutet es, sich ein bisschen zu verlieren und ein wenig hilflos zu sein. Und viele Türken haben das.
Manuela Swoboda