In Dartford an der häßlich ausgefransten Peripherie von London muss man nicht gewesen sein, aber der Bahnsteig hat Musikgeschichte geschrieben. Im Jahr 1961 stand dort ein schnöseliges Lehrersöhnchen. Er hatte zwei Blues-Platten unter dem Arm. Das sah ein pickeliger Working-Class-Rüpel neben ihm. „Hey, kann ich mal schauen?“ Der Schnösel heißt Mick Jagger, der Rüpel Keith Richards. Beide waren damals 18 Jahre jung. Richards dachte sich vermutlich: Wer solche Musik hört, kann kein ganz Schlechter sein. Der Rest ist auch Musikgeschichte und lautet auf den Namen „Rolling Stones“.
55 Jahre später schließt sich der Kreis. Die Steine haben längst dickes Moos angesetzt und mühen sich anno 2016 im Studio damit ab, neue Songs aufzunehmen. Aber es läuft nicht rund. Da macht Rüpel Richards den Vorschlag, zur Auflockerung den Blues-Klassiker „Blue And Lonesome“ zu spielen. Schnösel Jagger schluckt kurz, greift dann aber zur Mundharmonika und röchelt und raunt und rotzt sich voll Inbrunst und Leidenschaft durch die ruppige Leidenshymne von Little Walter. Das Eis ward gebrochen, das Moos fiel von den Steinen ab, und binnen dreier Tage waren waren insgesamt zwölf Blues-Hadern im Kasten. Sogar Erich Clapton, zufällig nebenan im Studio, spielte auf zwei Songs nicht mechanisch, sondern menschlich. Win, win, win allerorten.
„Blue And Lonesome“ ist also das „neue“ Album der Rolling Stones. Jetzt kann man sich die Frage stellen, ob die Welt noch ein neues Blues-Album braucht, das von alten Zeiten erzählt. Natürlich braucht die Musikwelt das nicht. Aber andererseits: So muss es wohl gedacht gewesen sein, damals am Bahnsteig von Dartford. Das Lehrersöhnchen hatte schon immer die beste weiße Bluesstimme der Welt. Und der Working-Class-Rüpel hatte den Blues zwar nicht in der Stimme, aber immer schon im Blut. Das waren „die Stones“. Jetzt haben wir sie wieder. Zumindest eine Platte lang.