ARMIN THURNHER: Nun, wir zwei wollen vermutlich einen jeweils anderen ORF. Immerhin trennt uns die gemeinsame Geschichte eines versuchten ORF-Volksbegehrens, erinnern Sie sich noch? Damals ging es gegen die parteipolitische Vereinnahmung des ORF durch die Roten, und darauf können wir uns vermutlich noch immer einigen, auch wenn der ORF schon lange durch die Türkisen vereinnahmt wird, versehen mit einer strengen niederösterreichischen Duftnote und einem Spritzer grünen Eau de Toilette.

MICHAEL FLEISCHHACKER: Ja, immer will man den ORF aus den Fängen von irgendwem befreien, dabei steckt er möglicherweise ohnehin nur in den eigenen: Ich glaube inzwischen, dass die unschönen politischen Besetzungen auf den oberen redaktionellen Etagen und in den kaufmännischen Fluren die Unabhängigkeit und vor allem Objektivität der Berichterstattung weniger beeinträchtigen als die Selbstfesselung des journalistischen Apparates durch das, was man heute gerne „Haltung“ nennt, auch wenn es sich nur um ein Bündel an Vorurteilen handelt.

THURNHER: Die Redaktionen im ORF haben sich im Vergleich zu früheren Zeiten ein hohes Maß an Unabhängigkeit erkämpft, das ist wahr; ebenso wahr ist, dass diese Unabhängigkeit prekär ist und durch kreative Ideen der Geschäftsführung bedroht wird. Darüber können wir ja noch reden. Wenn Sie mit Haltung so etwas wie Rückgrat meinen, also die Festigkeit, Interventionen, Wünschen, Drohungen und Andienungen standzuhalten, so ist sie Voraussetzung eines normalen Journalismus. Dass dieser in Österreich nicht die Norm ist, steht auf einem anderen Blatt.

FLEISCHHACKER: Sie haben recht, heute kann im ORF fast jeder machen, was er will, und das kann man auch gut finden, ich halte es eher für das Problem. Weil nämlich alle dasselbe wollen: Haltung zeigen. Und Haltung meint nicht Rückgrat gegenüber Interventionsversuchen, sondern einen Zugang zum Journalismus, der nicht dadurch geprägt ist, dass man die verfügbaren Informationen vor dem Hintergrund des vorhandenen Wissens einordnet, sondern einen Zugang zum Journalismus, der die verfügbaren Informationen danach aussortiert, ob sie in das bereits vorhandene Bild der Welt passen. Dieses Bild der Welt wird mit dem dicken Pinsel des Moralismus gemalt, es ist ein in der Peergroup geteiltes Bild. Das führt am Ende dazu, dass man sich nicht dem Publikum verpflichtet, sondern einem Alpha-Rudel von ORF-Journalisten, die ihre durch öffentliches Geld generierten Reichweiten im linearen Fernsehen und Radio auf die sozialen Medien übertragen und sich dort wie digitale Türsteher am Eingang in den Tempel der zulässigen Haltungen und Meinungen benehmen.

ORF-Zentrum auf dem Küniglberg
ORF-Zentrum auf dem Küniglberg © APA/HERBERT NEUBAUER

THURNHER: Ach, Fleischhacker, der dicke Pinsel des Moralismus! Selbstverständlich ist man als ORF-Journalist permanent unter Druck von allen Seiten. Und selbstverständlich ist Journalismus ein sich selbst reproduzierendes System, Sie haben da die Theorie des Soziologen Niklas Luhmann in ein paar dicken Pinselstrichen pastos vor uns aufgetragen, leider auf dem Untergrund eines leisen Ressentiments. Ich habe mit dem ORF (Sie reden vom Fernsehen, nehme ich an, Ö 1 ist im Großen und Ganzen ausgezeichnet) weniger das von Ihnen skizzierte Problem als das Problem der Angst. Angst, unkontrollierte Debatten anzustoßen, Angst, sich selbst und den öffentlich-rechtlichen Charakter zur Diskussion zu stellen, Angst, Mächtige in Medien, Politik und Wirtschaft zu verdrießen. Im Übrigen sollten wir etwas präziser werden. Nennen Sie doch Namen, dann tun wir uns vielleicht leichter.

FLEISCHHACKER: Wenn Sie gern Namen hören wollen, bringe ich ein Beispiel: die Interviews in der ZiB 2 mit den sechs Präsidentschaftskandidaten. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Interviewer an irgendwelchen Antworten interessiert waren, aber an der Vermittlung einer Botschaft: Eigentlich sollten die alle nicht kandidieren. Armin Wolf zum Beispiel fragte Dominik Wlazny, als dieser erklärt hatte, er würde in der Ibiza-Krise ähnlich agiert haben, wie der Amtsinhaber: Aber wozu braucht es Sie denn dann?

THURNHER: Ja, das mag sein; wobei ich zugebe, dass sich diese Frage insgesamt schon aufdrängt. Wir werden ja sehen, ob die durchaus kritisierbaren Aktionen des Bundespräsidenten mit gleicher Schärfe aufgegriffen werden. – Ich möchte vom ORF übrigens neben anderem, dass er den redaktionellen Journalismus hochhält, dass er Medien ermutigt und ihnen Raum gibt, die dasselbe tun, und dass er vor allem seine öffentlich-rechtliche Rolle in den digitalen Raum trägt. Aber nicht als Kundschaft der Tech-Giganten (das ist eh unvermeidlich), sondern als deren Gegner und mögliches alternatives Prinzip.

FLEISCHHACKER: Ich möchte vom ORF eigentlich nur, dass er seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllt, und der ist meiner Ansicht nach in erster Linie durch das Objektivitätsgebot und den Auftrag zur Abbildung der Vielfalt definiert. Beides sehe ich nicht oder jedenfalls bei Weitem nicht in einem ausreichenden Maß. Ich finde auch, dass es für den ORF inhaltlich in der digitalen Welt keine Beschränkungen geben sollte. Wir alle zahlen für den Journalismus, der dort gemacht wird, also sollten wir ihn auch überall konsumieren können. Aber es ist nicht die Aufgabe des ORF, private Anbieter auf dem Werbemarkt zu konkurrenzieren.

THURNHER: Das ORF-Gesetz ist da ziemlich explizit, man könnte sagen mehr als ausführlich. Da wird demokratische Bildung, europäisches Verständnis und vieles mehr gefordert. Die Finanzierungsform des ORF ist sicher ein heikler Punkt. Sie führt dazu, dass private Anbieter ihn zu beschneiden versuchen, wo sie können, nur um immer wieder zu erleben, dass die Erlöse nicht zu ihnen wandern, sondern an Konzerne sonst wo gehen. Der Konflikt um die „blauen Seiten“ ist so ein Beispiel. Durch Selbstbeschränkung hofft der ORF auf einen Deal mit den Verlegern und riskiert so, orf.at, eines der besten Medien im Land, zu ruinieren. Ich selbst bin Verleger und will nicht, dass die besten Medien Tauschmaterial in undurchsichtigen Markt-Deals werden.

FLEISCHHACKER: Ich denke, es ist ein ziemlich komplexes Problem, und doch scheint mir eine einfache Lösung die beste zu sein: Wenn wir denken, dass wir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk brauchen (ich habe da meine Zweifel, aber die tun in der Frage nichts zur Sache), dann sollten wir ihn angemessen finanzieren und den Wettbewerb um Werbegelder den privaten Unternehmen überlassen. Das Argument, dass dann die internationalen Konzerne alles absaugen, halte ich nicht für besonders stark: Ich glaube nicht, dass der ORF der Schlüssel zur Zurückdrängung der amerikanischen Tech-Giganten ist.

THURNHER: Das Zauberwort ist „angemessen“. Nimmt man dem ORF Anzeigenerlöse, wird er vollends zum Spielball der Politik. Das ginge, wenn, nur mit einer haltbaren, glaubhaften Entparteipolitisierung und einer Absicherung, die den ORF vor einem BBC-Schicksal bewahrt. Ich habe einmal etwas Ähnliches geschrieben wie, man muss den ORF wegen seiner besseren Möglichkeiten und trotz seiner Wirklichkeit lieben. Das geht mir noch immer so und beim Einfordern der Möglichkeiten wird einem auch nicht fad.

FLEISCHHACKER: Ich glaube, wie gesagt, dass der ORF ein größeres Problem mit der inneren intellektuellen Monokultur hat als mit den äußeren Bedrängungen. Und ich glaube, dass in den Reformdiskussionen rund um den ORF das alte Problem regiert: Man will das gleiche weiter machen, nur besser, statt dass man darüber nachdenken würde, wie man es anders macht. Es gab einmal einen ORF-Slogan, der hieß: „Alles bleibt besser“. Besser hätte man das Selbstverständnisproblem der Anstalt nicht zusammenfassen können.