Die Welt befindet sich durch den Modus der digitalen Medien in einem dauerhaften Erregungszustand – und die Medien verloren ihr Monopol als Gatekeeper. Auf diesen Satz ließe sich die Ausgangssituation verkürzen, die Bernhard Pörksen in seinem aktuell viel diskutierten Buch „Die große Gereiztheit“ beschreibt. Der in Tübingen lehrende Medienwissenschaftler ortet eine Reihe an medial-digitalen Krisenschauplätzen, die zu einer kommunikativen Situation geführt haben, in der Glaubwürdigkeit und auch die Wahrheit auf der Strecke bleiben. Sein Gegenkonzept nennt er in seinem Buch eine „konkrete Utopie“ und diese lässt sich mit zwei Worten beschreiben: redaktionelle Gesellschaft. Ein Begriff, auf den er bei seinem Grazer Vortrag weitgehend verzichtete.

Hier eine Zusammenfassung des Vortrages von Bernhard Pörksen, den der Wissenschaft im Rahmen der Reihe Geist & Gegenwart, veranstaltet vom Club Alpbach Steiermark, in der Aula der Alten Universität in Graz gehalten hat. Moderiert wurde der Abend von Kleine Zeitung-Redakteur Ernst Sittinger.

Bernhard  Pörksen. Die große Gereiztheit. Hanser-Verlag, 256 Seiten, 22,70 Euro.
Bernhard Pörksen. Die große Gereiztheit. Hanser-Verlag, 256 Seiten, 22,70 Euro. © Hanser

Beginnend erzählt Pörksen eine Geschichte, die er als „Superlativ der Seltsamkeit“ bezeichnet: Im Jahr 2017 warnte der populäre Radiomoderator Rush Limbaugh kurz vor Eintreffen von Hurrikan Irma. Anders als man glauben könnte, warnte Limbaugh allerdings nicht vor dem Sturm, sondern vor jenen, die ihn ankündigten. Man solle den Warnern vor dem Sturm nicht glauben. Man brauche keine Angst haben. Der Sturm sein nicht mehr als Propaganda, eine Erfindung. Dann flüchtete der Moderator selbst – und der Sturm kam.

„Was ist das überhaupt, die Realität“, fragt Pörksen. „Wissenschaftler sagen, wir leben im postfaktischen Zeitalter“, „Post-Truth era“, einer Zeit jenseits der Wahrheit: Pörksen ortet hinter dieser Terminologie einen tiefgehenden Pessimismus und rät zum Misstrauen gegenüber solcher Begriffe. Zum einen sehe er dahinter ein typisches Muster der Menschen, ihre Tendenz Unverstandenes in Kategorien zu fassen. Zum anderen habe es noch nie das Gegenteil, ein „faktisches“ Zeitalter, gegeben. Die Vorstellung einer Homogenität greife zu kurz. „Die These vom postfaktischen Zeitalter ist eine Resignationsvokabel“ und sei vorschnell. Natürlich erlebe man eine Wahrheitskrise und eine Macht der Desinformation und eine Neuorganisation der Informationswelt. Aber gleichzeitig bieten die neuen Medien  völlig neue Möglichkeiten auf Wissen zuzugreifen.

Landesrätin Barbara Eibinger-Miedl mit Bernhard Pörksen.
Landesrätin Barbara Eibinger-Miedl mit Bernhard Pörksen. © Thomas Fischer

Trendanalyse: Von Ungewissheit bis zur neuen Sichtbarkeit

Wie sehen sie aus, die Eckpunkte des neuen Informationsaustausches? Die Geschwindigkeit steigt, ebenso die Ungewissheit, es gibt neue Anreize („extreme“ Berichte verbreiten sich schneller), aber auch neue Manipulationsmöglichkeiten („man könnte es eine Demokratisierung der Manipulationsmöglichkeiten nennen“). Der fünfte Trend den Pörksen beschriebt, ist eine neue Verbreitungsdynamik, die sich auch in einer neuen Sichtbarkeit ausdrückt. Als Beispiel nennt Pörksen den Schwächeanfall Hillary Clintons bei einer Gedenkveranstaltung am Ground Zero im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs. Innerhalb von Stunden ging eine Welle der Aufregung um die Welt, in der die Geschwindigkeit die Fakten überholte.

Der angesehene Medienwissenschaftler beschreibt zwei Muster, wie Menschen das Verhältnis von Wahrheit, Information und Digitalisierung betrachten. Die einen fürchten sich, die anderen freuen sich. Die einen sehen eine durch Hass und Propaganda angefeuerte Apokalypse kommen, die anderen sehen eine Flut an neuen Möglichkeiten. „Brauchen wir eine Herrschaft der Wissenden?“, zitiert der Medienwissenschaftler eine These, die in der Debatte derzeit kursiert und eine Form der Einschränkung vorsieht, um „qualitätsvolle“ Information von anderen abzugrenzen. „Das ist der Versuch die Demokratie zu retten, indem man sie abschafft“, kann Pörksen dem Ansatz nichts abgewinnen. Seine Antwort ist einfach: Bildung. Es brauche ein neues Öffentlichkeitsbewusstsein, ein Korrektiv der digitalen Ökonomie, also eine „digitale Ökologie“. Und was noch? Qualitätsbewusstsein, Quellenbewusstsein („eine Aufgabe, die jeden angeht“), Bühnenbewusstsein – wie äußert man sich auf eine Weise, die langfristig tragbar ist?

Sein abschließender Satz: „Wir müssen Medienmündig werden, weil wir medienmächtig geworden sind und weil, dass was wir Öffentlichkeit nennen, der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie, gerade neu definiert wird.“

Und, warum so optimistisch? Der Optimismus sei eine Entscheidung. „Die Alternativen sind grauslig“, erklärte Pörksen.