"Du siehst wie ein Gespenst aus!“, entfährt es Mutter Judy (Lili Taylor) mit bebender Stimme und Tränen in den Augen, als sie ihrer Tochter, die nur noch wie ein Schatten ihrer selbst wirkt, gegenübersteht. Die Kamera hält unbeirrt auf Ellen (Lily Collins), eine junge Frau, die unter weiter Kleidung ihren ausgemergelten Körper versteckt und deren eingefallene Wangen schon vor langer Zeit jegliche Farbe verloren haben. Das Zählen von Kalorien hat sie perfektioniert, ihr Rücken ist übersät von blauen Flecken - intensive Sit-up-Sessions hinterlassen Spuren.
Ihre unbeholfene Familie trifft eine Entscheidung in letzter Konsequenz: Therapie bei Dr. Beckham (Keanu Reeves). In einer WG, die bereits sechs weitere junge Menschen mit diversen Formen von Essstörungen beheimatet, soll Ellen ihrem angesteuerten Verderben entkommen: dem Hungertod.
Nachdem die Netflix-Eigenproduktion über Suizid „Tote Mädchen lügen nicht“ bereits Proteststürme auslöste, gießt der Streamingdienst nun erneut Öl ins Feuer und sorgt mit dem Thema Anorexie für Diskussionsstoff. Schon vor der Veröffentlichung stiegen Gesundheitsexperten im Internet auf die Barrikaden, per Online-Petition wird sogar zum Boykott des Films aufgerufen. Der Grund: Das Zur-Schau-Stellen von Haut und Knochen könnte bei Betroffenen eine glorifizierende sowie triggernde Wirkung mit sich bringen. Sehen Sie hier einen Trailer:
Dabei wird die Auseinandersetzung keinesfalls Dilettanten überlassen: Regisseurin Marti Noxon sowie Hauptdarstellerin Lily Collins litten beide selbst an Magersucht. Letztere, die eigens für die Kamera erneut am Hungertuch nagte und dafür herbe Kritik einstecken musste, leistet Widerstand. Der filmische Prozess sei für sie „fast schon therapeutisch“. Ihr Anliegen ist es, betroffenen Personen klarzumachen, dass sie nicht alleine sind und ein Schrei nach Hilfe keine Schwäche, sondern wahre Stärke beweist.
Eindeutige Antworten nach dem Warum? liefert „To the Bone“ keine. Aber das muss der Film auch nicht. Vielmehr wirft er einen intimen Blick auf ein gesellschaftliches Phänomen, das weitaus vielschichtiger ist, als es zunächst scheint. Abrufbar ist der Film hier (ein Monatsabo ist ab 7,99 Euro buchbar).
Katrin Fischer