Der verdiente Sieg war für Nemo schon nach der Jury-Wertung zum Greifen nah: Aus 22 Ländern hatte die Schweiz die Höchstwertung bekommen. Damit kehrte der Eurovision Song Contest à la Grand Prix de la Chanson zu seinen Ansprüchen zurück. Eine extrem hochwertige Darbietung und Komposition, die sowohl zu unterhalten als auch berühren vermochte, wurde von Europa bzw. der ganzen Welt belohnt. Nemo gewann zwar das nicht das Televoting (da lag Kroatien knapp vor Israel), aber mit insgesamt 591 Punkten war der non-binären Künstlerpersönlichkeit der Sieg nicht zu nehmen. Im Televoting erreichte Nemo Rang fünf – hinter Frankreich mit nur einem Punkt Abstand.

Wettbüro-Favorit Kroatien fährt mit der Silber-Medaille nach Hause (insgesamt 547 Punkte), Bronze ging an die Ukraine (453), knapp vor Frankreich (Slimane war aber bei den Fachjurys auf dem zweiten Platz).

Auch von der österreichischen Jury bekam Nemo zwölf Punkte; beim Televoting des ORF-Publikums gingen die meisten Stimmen für Kroatien (vor Israel) ein – aber dazu später.

Österreich selbst lukrierte aus dem internationalen Televoting nur fünf Punkte (Großbritannien durfte sich sogar über null Punkte wundern), kombiniert mit den Fachjury-Punkten (damit wurden es insgesamt 24 Punkte) reichte es für Kaleen und „We Will Rave“ bloß für den vorletzten Platz.

Vorjahressiegerin Loreen aus Schweden übergab Nemo die ESC-Trophäe
Vorjahressiegerin Loreen aus Schweden übergab Nemo die ESC-Trophäe © AFP

Das befürchtete Chaos blieb bei der Übertragung der Auftritte der 25 Finalisten 2024 aus. Trotz Aggressivität und Antisemitismus in der Gastgeberstadt. Beschämende Buh-Rufe in der Malmö-Arena ignorierte die mutige Israelin Eden Golan („Ich will unsere Nation stolz machen!“). Das Fernbleiben des Niederländers Joost Klein wurde von den Gastgeberinnen gar nicht erst thematisiert, nur von den TV-Kommentatoren kurz erwähnt. Mitstimmen durfte das niederländische Publikum ja dennoch. Und ABBA fehlten zum 50-Jahre-Jubiläums ihres Siegs mit „Waterloo“ auch; es wurde nur zu den Hologrammen des Kult-Quartetts nach London geschaltet („ABBA Voyage Show“). Immerhin konnte unsere Conchita Wurst so wieder vor 160 Millionen Zuschauern weltweit auftreten. Mit zwei weiteren ehemaligen Siegerinnen (Charlotte und Carola) schmetterte sie „Waterloo“ – und erinnerte noch einmal daran, was sie bzw. er für eine tolle Stimme hat.

Nur Platz 24 für Österreich

Österreichs Kaleen legte einen souveränen Auftritt mit ihrer perfekten Choreografie und der dynamischen Laser-Show unter einer großen Kristall-Pyramide hin. Bewegen kann sich die 29-Jährige! Sie machte Stimmung, wirkte nicht angestrengt, sondern im Rhythmus befreit. Auch gesanglich meisterte sie den EuroDance-Ohrwurm, der in der tobenden Arena bejubelt wurde. Vor den Bildschirmen fehlte aber offenbar die Begeisterung.

Das Herz der Israelin

„Wir haben ein emotionales, kraftvolles Lied, das mir und vielen Menschen so viel bedeutet und mich tief im Inneren berührt.“ Mit dieser Überzeugung trat die 20-jährige Eden Golan für Israel an. So viele Menschen würden an ihrer Seite und sie unterstützend und beschützend „durch diese verrückte Reise gehen. Das erwärmt mein Herz“. Bei den leisen Tönen in ihrer dramatischen Ballade „Hurricane“ schwappte der laute Publikums-Klangteppich in die Wohnzimmer. Es wurde ein fünfter Platz – vor allem durch das Televoting.

Ein waghalsiger Husarenritt

Eine sich drehende Scheibe, die auch schnell kippen konnte: Der Auftritt von Nemo aus der Schweiz, ein waghalsiger Husarenritt, kann als Sinnbild für die 68. Ausgabe des Eurovision Song Contests gesehen werden. Der Wettbewerb wandelte mit seinem Getöse, seiner Hysterie, den Anfeindungen und seinen extremistischen Auswüchsen gefährlich am Abgrund. Nemos riskante eigene kleine Bühne sollte bei „The Code“ etwas darstellen, „wo es zwei Seiten gibt, etwas, das nach links und rechts kippen kann. Eine Metapher auch, um die Balance zu finden“, wie der Choreograf des Schweizer Vertreters, Benke Rydman, im Vorfeld erklärte. Die Idee kam ihm freilich durch den Songtext, die Selbstfindung des non-binären Nemo.

Zweiter Platz: Marko Purisic alias Baby Lasagna aus Kroatien mit „Rim Tim Tagi Dim“ 
Zweiter Platz: Marko Purisic alias Baby Lasagna aus Kroatien mit „Rim Tim Tagi Dim“  © AFP

Bei Baby Lasagna hörte man, dass er die deutsche Band Rammstein zu seinen größten musikalischen Einflüssen zählt. Als extravagant mag man sein „Rim Tim Tagi Dim“ über Migration gar nicht bezeichnen, da mischen sich eben Techno und Rock in einem Spektakel, das mit seinen folkloristischen Anleihen inklusive Häkeldeckchen und der lauten Inszenierung nicht neu auf der ESC-Bühne war. Adult Lasagna wäre dafür der falsche Künstlername gewesen. Der 28-jährige Marko Purišić (so der bürgerliche Name) war lange Zeit Gitarrist einer Rockband namens Manntra. Für ihn war schon die Reise nach Malmö eine Art Cinderella-Story. Er war ja nur als Reservekandidat beim kroatischen Vorentscheid ins Rennen gegangen. Für Kroatien ist es die beste Platzierung in der ESC-History (bisher war es Rang vier).

Wohltuend beim 68. ESC, wo die Nerven vor und in der Arena blank lagen: die unaufgeregte Moderation von Schauspielerin Malin Åkerman und Show-Veteranin Petra Mede. Die in den Werbepausen, die der ORF gerne nutzte (im Gegensatz zur ARD), noch mehr erzählen konnten.

Weltuntergang auf Platz sechs: Bambie Thug aus Irland mit
Weltuntergang auf Platz sechs: Bambie Thug aus Irland mit "Doomsday Blue" © AFP/Schwarz

Als eine aus der Hölle entstiegene Teufels-Barbie mit gruseligem Make-up polarisierte Bambie Thug aus Irland, die ihre „Musik“-Richtung Ouija-Pop nennt. Eine Herausforderung für die Ohren, zudem war die 31-Jährige im Vorfeld wiederholt mit Anti-Israel-Äußerungen aufgefallen war. Der israelische ESC-Kommentator sprach indes von schwarzer Magie und satanischen Symbolen bei Bambies Performance. Früher gab es mehr Lametta beim ESC. Nichts da also von „United by Music“. 

Nemo im Röckchen auf der Drehscheibe für die Schweiz: „The Code“
Nemo im Röckchen auf der Drehscheibe für die Schweiz: „The Code“ © AFP

Im Finale konnte nun auch endlich über die sechs Fixtstarter abgestimmt werden: darunter Olly Alexander aus Großbritannien. Er hatte den „queersten“ Auftritt versprochen, den es je beim ESC gab. Überhaupt möglich? Das Ambiente erinnerte an eine Duschkabine nach schweißtreibendem Boxtraining. Durch die ruckartigen Kippbewegungen der Kabine kamen sich Olly und die Boxer immer wieder erotisch nahe. Inszeniert wie Kino.

Triumph für die Schweiz in der Malmö-Arena
Triumph für die Schweiz in der Malmö-Arena © AP / Martin Meissner

Die Schlampen waren gar nicht müde

Wie eine erfundene Biografie liest sich der Steckbrief der Spanierin Mery Bas. Die 55jährige war einst die Babysitterin ihres heute 47-jährigen Ehemanns Mark Dasousa. Ihr 80er-Jahre Popschlager „Zorra“ thematisiert die weibliche Selbstbestimmung in einer Welt der Oberflächlichkeit, in der Menschen nur nach Äußerlichkeiten beurteilt werden. Zugleich ist „Zorra“ auch ein spanisches Schimpfwort (Schlampe) und wurde von den Fans in der Arena so laut mitgesungen, dass sogar fast der schiefe Gesang von Mery übertönt wurde. Dazu gab es viel roten Samt, Plüsch und entfesselte Tänzer mit nackten Po-Backen. Als ob sich die Geissens zum Song Contest verirrt hätten.

Dornen und Rosen beim ESC

In „La noia“ (Der Verdruss) im Cumbia-Pop-Gewand der 22-jährigen Italienerin Angelina Mango geht es darum, aus Schicksalsschlägen zu lernen und gestärkt daraus hervorzugehen. Das Bühnenbild glich einem LED-Geflecht aus unzähligen Dornen und Rosen und einem aus Wurzeln geformten Thron. Da gab es stimmlich nichts zu bemängeln. Und die Italienerinnen können das eben: elegant und sexy zugleich sein!

Frankreich schickte mit dem 34-jährigen Slimane Nebchi, der algerische Wurzeln besitzt, einen national gefeierten Star nach Malmö. Seine Power-Ballade „Mon Amour“ ist ein musikalischer Liebesbrief an seine Freunde und Liebsten. Voller Inbrunst sang Slimane im weißen transparenten Oberteil seinen Beitrag zuerst auf dem Boden liegend. Für die Inszenierung benötigte er lediglich etwas Nebel und Wind. Die Generalprobe hatte er übrigens auf offener Bühne mitten in seinem Lied für eine Friedensbotschaft unterbrochen. Er betonte, er sei Musiker geworden, um Menschen in Liebe zusammenzubringen.

Deutschland spielte mit dem Feuer. Isaak sang sich in seinem schwarzen Anzug in düsterem Ambiente eindrucksvoll die Seele aus dem Leib. Umringt von brennenden Tonnen.

Die Jury-Punkte aus Österreich wurden wie schon in den letzten Jahren von Ö3-Moderator Philipp Hansa verlesen. Für die Wertung verantwortlich waren die steirische Popsängerin Anna-Sophie, Ex-ESC-Starterin Pia Maria, PR-Managerin Annemarie Treiber, FM 4-Redakteur Philipp Emberger und Singer-Songwriter Simon Lewis. ORF-Mann Hansa bewies Courage; er lieferte keine La-La-La-Rede ab, sondern übermittelte vor der Bekanntgabe der zwölf Punkte aus Österreich (für die Schweiz) eine feine Botschaft. Zehn Punkte der heimischen Experten gab es übrigens für Italien, acht für Kroatien, sieben für Armenien.

Nemo auf dem rotierenden Kreisel in der Arena: Ein Unfall war durchaus möglich
Nemo auf dem rotierenden Kreisel in der Arena: Ein Unfall war durchaus möglich © AP/Meissner
Slimane aus Frankreich mit „Mon Amour“: Platz vier
Slimane aus Frankreich mit „Mon Amour“: Platz vier © AP/Meissner
Österreichs Kaleen erreichte mit „We Will Rave“ nur Rang 24
Österreichs Kaleen erreichte mit „We Will Rave“ nur Rang 24 © AP
Die nervenstarke Israelin Eden Golan in Malmö: Platz fünf
Die nervenstarke Israelin Eden Golan in Malmö: Platz fünf © AFP/ Schwarz
Angelina Mango mit „La noia“ für Italien: Platz sieben
Angelina Mango mit „La noia“ für Italien: Platz sieben © IMAGO
Die Ukraine mit „Teresa & Maria“: Bronze-Medaille in Malmö
Die Ukraine mit „Teresa & Maria“: Bronze-Medaille in Malmö © AP/Meissner