"Lieber, sehr lieber Hans Ulrich Obrist. Danke für die schönen Karten aus London“, ist in einem Brief der 76-Jährigen zu lesen. Und anderswo heißt es: „Nach ihrem lieben Anruf bin ich wieder tüchtig geworden und die Weltmüdigkeit wird hoffentlich ganz genesen. Danke danke lieber Hans Ulrich! Sie sind ein wahres Glücksgeschenk für mich u. die Welt!!!“


Wüsste man nichts vom fast 50-jährigen Altersunterschied zwischen der Verfasserin und ihrem Adressaten, man könnte in solchen Zeilen fast Anzeichen einer leichten Verliebtheit erkennen, wie sie der Liebhaberin zahlreicher Männer, darunter Arnulf Rainer und Michael Guttenbrunner, keinesfalls fremd war. Doch zwischen ihr und dem international erfolgreichen Kurator waren die Bande in erster Linie beruflicher Natur, wie aus einem soeben erschienenen Kunstband mit Lassnigs Briefen hervorgeht.


Als Gymnasiast war Obrist einst von Zürich nach Wien gereist, um die Malerin und einige ihrer Kollegen in deren Ateliers zu besuchen. 18 Jahre später kuratierte er eine Ausstellung für die Wiener Festwochen, in der er Lassnig eine zentrale Position einräumte. Damals begann zwischen den beiden ein fruchtbarer Dialog, der rund 20 Jahre andauerte und erst kurz vor dem Tod der Künstlerin im Jahr 2014 endete.

Fehlende Anerkennung

Neben ihrer „Weltmüdigkeit“ ist in den Briefen auch viel von fehlender Anerkennung in der männlich dominierten Kunstszene die Rede, weshalb Lassnig offen aussprach, was sie sich von ihrem Vis-à-vis erwartete: „Ich habe weder Nachkommen noch Verwandtschaft, die sich meiner Bilder annehmen könnten, so muss ich versuchen, selbst noch zu retten, denn meine Bilder sind kaum noch in Museen zu sehn u. wenn ich mich verflüchtige werden es diese auch“, schrieb sie aus ihrem Sommerdomizil im Kärntner Metnitztal. Nachsatz: „Vielleicht könnten Sie etwas helfen?“
Als ihr Briefpartner tatsächlich half und ihr 2008 in seiner Londoner Serpentine Gallery eine Einzelschau organisierte, wollte Lassnig kurz vor der Eröffnung absagen, weil sie Angst hatte, „sich vor der internationalen Kunstöffentlichkeit zu blamieren“, wie Obrist im Vorwort des Buches anmerkt. Erst nach „stundenlanger Überzeugungsarbeit“ habe er sie umstimmen können. Später wird Lassnig lamentieren: „Lieber Hans Ulrich, die ganze Welt kommt, um meine Ausstellung zu sehn, das ist wunderbar für mich – aber die Österreicher wissen garnix davon!“
Die handgeschriebenen Briefe sind aber nicht nur Dokumente eines lebenslangen Selbstzweifels, der in starkem Kontrast zur Vitalität ihrer Malerei steht, sondern sie erzählen auch von Lassnigs Reisen, ihren „Körperbewusstseinsbildern“, die der Fotografie Paroli bieten sollten, oder traumatischen Kindheitserlebnissen, wie etwa, dass sie als Dreijährige während einer Lungenerkrankung die Sterbesakramente erhielt.

"Extreme Sachen wie in London"


Das von Peter Pakesch und Hans Werner Poschauko mitherausgegebene Kunstbuch enthält auch Faksimiles von Ansichtskarten aus Kärnten. Einige zeigen Sehenswürdigkeiten wie Schloss Velden oder Maria Wörth, eine andere die Turracher Höhe. Auf die Rückseite einer Abbildung schrieb Lassnig mit unbekümmerter Orthografie: „Umseitig die Strasburg, mehr eine Burg als ein Schloss, ist im fürstbischöflichen Besitz, unser Bischof ist aber ein Kunstfreund, aber zu extreme Sachen wie in London sollte man hier nicht zeigen. Meine Ausstellung hatte verhältnismäßig viele Besucher, trotzdem sie nicht richtig Publicity machten. Alors? Come and see.“
Obrist, 2016 vom Magazin „ArtReview“ unter die Top Ten der einflussreichsten Persönlichkeiten der Kunstwelt gereiht, ist Lassnigs Einladung nach Kärnten nie gefolgt – sehr zu seinem Bedauern, wie er heute betont. Auch was er ihr antwortete, bleibt in der Publikation ausgespart. In einem ihrer letzten Briefe schrieb Lassnig an ihn: „Ich zittre in den Höhlen meines Ateliers u. hoffe dass Sie ein bisl nachfühlen was ich erlebe; die Hölle hier auf Erden (...) Alles Liebe u. Gute wünsch ich Ihnen immer Ihre Maria Lassnig“.

© Lassnig-Stiftung