Eigentlich war es ein gutes Jahr für die Londoner Kunstszene: Die Besucherzahlen stiegen, neue Museen öffneten. Aber dennoch will sich im Rückblick keine Freude einstellen. Die Unsicherheit, die der Brexit auch für diesen Sektor bringt, überschattet alles. "Es war ein Jahr der schrecklichen Schocks - von Brexit bis Trump", sagt Stephen Deuchar, Direktor der Kunstförderungsstiftung Art Fund.
Die gedrückte Stimmung wird auch nicht dadurch besser, dass gleich an zwei der größten Museen Londons Wachwechsel vollzogen wurden. Martin Roth, der deutsche Direktor des Victoria and Albert Museums, nahm im September nach fünf Jahren im Amt überraschend seinen Hut. Enttäuschung über das Brexit-Votum und seine Folgen wurden als einer der Gründe für seine Entscheidung genannt.
Das Personalkarussell
Wenig später gab Nicholas Serota, der Direktor der Tate Galleries, seinen Rücktritt bekannt. Er verlässt seinen Posten im Februar nach fast 30 Jahren und übernimmt den Vorsitz des einflussreichen Arts Council (Kunstrat), des höchsten Bindeglieds zwischen der Kunstwelt und der Regierung. Nach dem Weggang von Neil MacGregor nach Berlin zog mit Hartwig Fischer 2016 im British Museum ein neuer Chef ein.
Politische Unsicherheiten und Personalwechsel führten aber nur vorübergehend zur Lähmung. Schon Ende Oktober haben rund 500 Vertreter der Kunst-und Museumswelt, von Theatern, Musik, Mode, Film und zahlreichen anderen Branchen, in einem Bericht ihre "rote Linie" für künftige Brexit-Verhandlungen der Regierung festgelegt.
Die Vereinigung Kunstschaffender Industrien (Creative Industries Federation) verlangt in ihrer umfassenden Analyse eine genaue Bestandsaufnahme der gegenwärtigen EU-Förderung, den geschätzten künftigen Verlust der Mittel und deren Ersatz durch die Regierung sowie die Überprüfung branchenspezifischer Regulierung, den Schutz von Urheberrechten und erleichterte Anwerbe- und Visabedingungen.
Ein Milliardengeschäft
Der Beitrag der Kunst-und Unterhaltungsbranche zur Gesamtwirtschaft wird von der Regierung mit jährlich mehr als 87 Milliarden Pfund (102 Milliarden Euro) bewertet. Der Export "kreativer Industrien" brachte zuletzt (2014) rund 20 Milliarden Pfund ein. "Damit ist dies der am schnellsten wachsende Sektor der britischen Volkswirtschaft", stellt der Bericht fest.
Nach Angaben des stellvertretenden Labour-Vorsitzenden Tom Watson hat allein die britische Hauptstadt zwischen 2007 und 2013 jährlich umgerechnet 7,5 Millionen Euro aus dem Kulturfördertopf der EU erhalten. Er kritisierte, dass die konservative Regierung von Theresa May bisher nicht deutlich gesagt habe, ob und wie sie diese Finanzierung nach dem Austritt Großbritanniens aufrechterhalten will.
"Brückenfunktion"
Neben der Sicherstellung von Fördermitteln gibt es auch Sorge um die künftige Anwerbung von "Weltklassetalent" aus dem Ausland, wie es in dem Bericht heißt. In Zusammenarbeit mit der EU müssten hier "vernünftige Entscheidungen" getroffen werden. Etwa ein Viertel der Beschäftigten im Kunst-und Kulturbereich sind Schätzungen zufolge Nicht-Briten. Befürchtet wird auch eine Aushöhlung der traditionellen "Brückenfunktion" Großbritanniens zwischen Europa und den USA beim kulturellen Austausch und der Anwerbung von Darstellern im Bereich von Musical, Entertainment und Theater.
Tate-Direktor Serota warnte in diesem Zusammenhang vor der Errichtung "künstlicher Barrieren". Der Erfolg der Tate Modern und ihrer Schwestergalerien habe maßgeblich mit der Anwerbung von qualifiziertem Personal "auf allen Ebenen und in ganz Europa" zu tun. "Unterschiedliche kulturelle Erfahrungen und Standpunkte helfen uns zu verstehen, was unsere Besucher von uns erwarten", sagte Serota.
Auf seine künftige Rolle im Kunstrat und seine langjährige Erfahrung im Umgang mit Kunst, Geld und Politik setzen viele in der britischen Kunstszene nun ihre Hoffnung. Allerdings wird auch erheblicher Gegenwind von lauten Minderheitsstimmen erwartet, die auch im Kulturbereich den Brexit als eine "Befreiung von den Ketten der EU-Bürokratie" sehen.
Anna Tomforde