Man kann ganz schwer den Blick losreißen, auch, weil sich die Geschichte dahinter mit all ihrer Dramatik an einem festkrallt. Eine Straße in Woodland, Washington, ein Polizeiauto, Schaulustige, mitten auf der Straße liegt ein Elefant. Jemand bespritzt ihn mit einem Schlauch, rundherum breitet sich eine riesige Wasserlache aus. Knochentrocken ist hingegen der Bildtitel: „Exhausted Renegade Elephant“ („Erschöpfter abtrünniger Elefant“). Wo kam er her, der Elefant, wo wollte er hin, was ist wohl aus ihm geworden? 1979 hat Joel Sternfeld diese Szene aufgenommen, aber nicht als Schaulustiger oder Anrainer und schon gar nicht hat er die Fotografie salopp aus der Hüfte geschossen. Sternfeld hat sich mit seiner großen Plattenkamera positioniert und aus der dramatischen Szene eine Fotografie komponiert: das Auto des Sheriffs, drohend im Vordergrund, die Autotür geöffnet, das suggeriert Dringlichkeit, die dramatische Szene von Bäumen, also der Natur, eingerahmt, die Straße, die diese Idylle durchschneidet, der entkräftete Elefant, den hat er direkt in den Fluchtpunkt gesetzt. In einer Lokalzeitung war das vermutlich eine Meldung, ein Bericht, aber Joel Sternfeld hat daraus eine große Erzählung gemacht: der Mensch, die Natur, das Tier und die dramatischen Folgen. Ersterer benimmt sich in zweiterer wie ein Elefant im Porzellanladen, den tierischen Dritten bleibt nur der kurze, erfolglose Fluchtversuch.

Exhausted Renegade Elephant, Woodland, Washington, aus der Serie: American Prospects, Juni 1979
Exhausted Renegade Elephant, Woodland, Washington, aus der Serie: American Prospects, Juni 1979 © Albertina, Wien – Schenkung Joel Sternfeld © Joel Sternfeld

„American Prospects“ heißt das Fotoprojekt von Joel Sternfeld, das er zwischen 1978 und 1986 umgesetzt hat. Dutzende Fotografien davon sind derzeit in der Albertina in Wien zu sehen, die als Teil einer 349 Werke umfassenden Schenkung an das Haus gingen. Es ist eine künstlerische Landvermessung, die der Fotograf in diesen Jahren unternommen hat – komponiert, ganz klar, immerhin konnte er mit seiner schwerfälligen Kamera nicht mehr als zwei Bilder pro Tag aufnehmen. Die Prämisse also: Die Fotografien müssen im wahrsten Sinne des Wortes zu Bildträgern werden, müssen die Landschaften, die Menschen darin und die Wechselwirkung zwischen beiden nicht nur abbilden, sondern zu einer den Augenblick überdauernden Erzählung werden. Und so dokumentiert Sternfeld nicht zuletzt, mit Witz, Ironie und Melancholie, jene Zeit, als Jimmy Carter und danach Ronald Reagan dem Land ihren Stempel aufdrückten.

Er dokumentiert massive Eingriffe in die Natur, Armut, aber auch Wohlstand und soziale Ungleichheit. Wie etwa jene Fotografie, die er 1983 in Atlanta aufgenommen hat: Die drei schwarzen Frauen, die 1983 inmitten einer herausgeputzten Wohnanlage stehen, sind nicht etwa Nachbarinnen, sondern das Putzpersonal, das auf den Bus nach Hauses wartet. Die Technikverliebtheit und den Wettlauf um die Vorherrschaft im All hielt er 1979 auf einer Air Force Basis fest. Es sind Fotografien, deren aufwändige Kompositionen, nicht von ungefähr an die Landschaftsmalerei der alten Meister erinnern. Mit einem entscheidenden Unterschied, der ungezügelten Natur wurden hier längst die Zügel angelegt.

The Space Shuttle Columbia landet auf der Kelly Lackland Air Force Base, San Antonio, Texas, aus der Serie: American Prospects, März 1979
The Space Shuttle Columbia landet auf der Kelly Lackland Air Force Base, San Antonio, Texas, aus der Serie: American Prospects, März 1979 © Albertina, Wien – Schenkung Joel Sternfeld © Joel Sternfeld

Und noch ein Aspekt macht die Fotografien des heute 79-Jährigen zum Hingucker – die Farbe. Der gebürtige New Yorker hat sich in den 1970er-Jahren vom damals vorherrschenden Dogma der Schwarzweißfotografie emanzipiert und Farbe in die Fotokunst gebracht. In den „American Prospects“-Fotografien verbinden sich Grün, Beige, Weiß zum Farbsubstrat ganzer Landstriche. Auch eine Form der Begrenztheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Das Personal wartet auf den Bus, Atlanta, Georgia, aus der Serie: American Prospects, April 1983
Das Personal wartet auf den Bus, Atlanta, Georgia, aus der Serie: American Prospects, April 1983 © Albertina, Wien – Schenkung Joel Sternfeld © Joel Sternfeld