Wie ein stetig anschwellender Fluss verbindet das Motiv des Wassers die drei Hauptfiguren im neuen Roman der türkisch-britischen Schriftstellerin Elif Shafak. Schon in ihrem Buch „Das Flüstern der Feigenbäume“ gab sie einem Feigenbaum in Zypern eine Stimme. Im „Am Himmel die Flüsse“ reist ein Wassertropfen als Erzähler durch die Zeit.

Die Geschichte des IS-Massakers an Tausenden jesidischen Frauen und Kindern hat erst unlängst Ronya Othmann in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ beschrieben. Es kommt auch bei Elif Shafak vor. Hier ist es Narin, eine der drei Hauptfiguren, die den Genozid nur knapp überlebt. Doch im Gegensatz zu Othmann liefert Shafak keinen dokumentarisch anmutenden Bericht, sondern breitet einen schillernden Orientteppich aus miteinander verwobener Geschichten aus. Bildgewaltig verknüpft sie Gegenwart und Vergangenheit, indem sie phasenweise aus der Perspektive eines Wassertropfens erzählt.

Alles beginnt im antiken Ninive, wo dem König Mesopotamiens ein Regentropfen auf den Kopf fällt. Dort bleibt er, bis er verdunstet: „Über kurz oder lang wird die durchsichtige kleine Wasserperle wieder zum Himmel aufsteigen und dort auf den rechten Augenblick warten, um erneut auf die Erde zu fallen ... und wieder und wieder.Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen.“ Vom Zwischenstromland zwischen Euphrat und Tigris geht die erzählerische Reise an die Themse. Hier lernt man im 19. Jahrhundert den aus armen Verhältnissen stammenden Arthur kennen, der einmal die Keilschrift der Assyrer entziffern wird. Im britischen Museum entdeckt er auf Tontafeln aus der Bibliothek von Ninive er Fragmente des lange verschollenen Gilgamesch-Epos, das bereits eineinhalbtausend Jahre vor Christus von einer Sintflutkatastrophe erzählt.

Elif Shafak. Am Himmel die Flüsse. Hanser Verlag. 592 Seiten, 28,80 Euro

Auf einem Hausboot auf der Themse lebt gegen Ende des mehr als 600 Seiten starken Romans schließlich die dritte Hauptfigur von Shafaks weltumspannenden Epos. Auch Zaleekha erreicht schließlich der einstige Tropfen aus Ninive. Sie ist eine Hydrologin, die die Gefahren des Wassers nur zu gut kennt, musste sie doch als Kind dem Ertrinkungstod ihrer Eltern zusehen. Die Wissenschaftlerin mit irakischen Wurzeln forscht inzwischen an der Verschmutzung der Flüsse und den Bausünden an deren Ufern. Zaalekha glaubt an ein „Gedächtnis des Wassers“ - was durch die Erzählstimme des Regentropfens auf poetische Weise verdeutlicht wird.

Selten wird in einem Roman die Klimakrise so bedrückend und gleichzeitig blumig beschrieben, die Unterdrückung der Frauen und ihrer Weisheit (schon in Mesopotamien) wie beiläufig erwähnt, islamischer Fanatismus anhand eines Genozids angeprangert und vieles mehr. Elif Shafak hat in diesem west-östlichen Bilderbogen die wesentlichen Konflikte der Welt umfasst und daraus ein erschütternd schönes Buch gemacht.