Die Wiener Staatsoper, an der Sie Richard Wagners „Parsifal“ dirigieren, bedeutet Ihnen viel?
SEMYON BYCHKOV: Ja, denn als ich 1975 aus der Sowjetunion emigrierte, war mein erster Aufenthalt in der freien Welt in Wien. Eines Nachmittags kam ich zufällig zur Staatsoper, ich hatte keinen Stadtplan. Es war kurz vor Vorstellungsbeginn von Wagners „Lohengrin“, dirigiert von Zubin Mehta. Ich konnte nicht hinein, ich hatte kein Geld. Und genau 30 Jahre später habe ich hier selbst „Lohengrin“ dirigiert.
Wie fanden Sie zu Wagner?
SEMYON BYCHKOV: Natürlich wuchs ich mit russischer Musik auf, mit Tschaikowsky oder Rachmaninow. Irgendwann dachte ich, jetzt wird es Zeit für Wagner, und „Parsifal“ war das erste Bühnenwerk, das ich dirigierte.
Warum gerade den „Parsifal“?
SEMYON BYCHKOV: Vielleicht wegen der Spiritualität des Werkes, und wie Wagner sie ausdrückt. Er thematisiert jeden Aspekt des Universums. Seit Bach hat das meiner Meinung nach niemand geschafft.
Was macht nun Wagners „Parsifal“ aus?
SEMYON BYCHKOV: „Parsifal“ ist die Summe all seiner Kreativität. So etwas kann man nur am Ende seines Schaffens kreieren, das braucht die Erfahrung eines gelebten Lebens. Ähnlich wie die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss. Bei „Parsifal“ stehen die Tonarten für Galaxien. Man kommt von einer Note zur nächsten, von einer Tonart in die nächste. Es ist wie eine Reise durch immer entferntere Galaxien. Natürlich geht es im „Parsifal“ auch um das Christentum. Aber die Aspekte Mitleid und Erbarmen gibt es auch im Buddhismus. Hier bekommen die Leitmotive dramaturgische Funktion, sie stehen für die permanente Erneuerung des Materials. Reinkarnation ist ein Schlüsselbegriff im Buddhismus.
Was ist wichtig, um den „Parsifal“ zu dirigieren?
SEMYON BYCHKOV: Die Musik ist sehr komplex. Man kann eine Note mit einem Menschen vergleichen. Sie hat eine bestimmte Lebensdauer, sie entsteht aus der vorigen Note und schafft die nächste. Jede Note muss ihren Platz finden, und nicht auf Kosten der anderen. Man kreiert die perfekte Gesellschaft in Harmonie, so wie es im echten Leben nicht möglich ist.
Hat Sie Wagners Antisemitismus nie gestört?
SEMYON BYCHKOV: Doch, natürlich. Künstler sind fehlbare Menschen, und oft wäre die Enttäuschung groß, würde man sie persönlich kennenlernen. Aber ich muss nicht mit dem Menschen Wagner leben, sondern mit seiner Musik. Er hat vielen Menschen Schmerz verursacht, aber er hat auch selbst viel Schmerz erlitten und an der Welt gelitten.
Sie sprechen nie über Regisseure. Was denken Sie über Regietheater?
SEMYON BYCHKOV: Es gibt so viele Produktionen, manchmal funktionieren sie, manchmal nicht. Aber welche Rolle hat der Regisseur? Es geht darum, dem Werk zu dienen. Dazu muss man es aber auch kennen.
Haben alle Regisseure diese musikalische Kompetenz?
SEMYON BYCHKOV: Absolut nein. Natürlich gab es Ausnahmen, wie Patrice Chéreau. Der hatte einen phänomenalen musikalischen Sinn, da war es unwichtig, ob er die Partitur lesen konnte oder nicht. Oft haben Regisseure keinen Bezug zur Musik, aber diese ist das Fundament der Oper.